Wednesday, March 27. 2013
Der Krieg um die Information
In den letzten Tagen und Wochen verfolgt mich das Thema Bürgerrechte vs. Staatsgewalt. Angestoßen wahrscheinlich dadurch, dass ich gerade Cory Doctorows neuen Roman "Homeland" für Heyne übersetze. Als Literaturwissenschaftler beeindrucken mich seine Texte ja eher weniger — er schwelgt in Adjektiven und Hyperbeln und unterbricht seinen narrativen Fluss alle paar Seiten mit kleinen Essays übers Datensichern oder Kaffeekochen (ich habe seine Methode probiert, und sie sagt mir nicht zu). Politisch gesehen aber halte ich ihn für einen der wichtigsten Autoren unserer Zeit — gerade, weil er sich (auch) an ein jugendliches Publikum richtet. Und weil seine Bücher manchmal verdammt mutig sind.
Er erzählt uns von der hässlichen Seite unserer Welt, die wir gern übersehen: Wie unsere eigenen Regierungen uns belügen, ausspionieren und unsere Bürgerrechte mit Füßen treten — einfach nur, weil sie es können. Gerade vor wenigen Tagen ging ein Fall durch die sozialen Netzwerke, in dem ein Opfer sexueller Drohungen sich Hilfe von der Polizei versprach und stattdessen einen Alptraum durchlebte. Corys Charakteren passiert so was ständig. Sie werden von der Staatsgewalt mit Kampfstoffen attackiert, ohne Anklage festgehalten, gedemütigt, gefoltert. Natürlich wissen wir, dass solche Dinge passieren. Wir glauben nur nicht, dass sie wirklich relevant für unser Leben sind.
Letzte Woche besuchte ich dann einen Vortrag der ehemaligen MI5-Agentin Annie Machon. Gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährtin David Shayler wurde sie zur Whistleblowerin, als sie die Machenschaften des Geheimdienstes nicht länger ertrug. Sie wurde Zeugin genau desselben selbstherrlichen Machtmissbrauchs, wie Cory Doctorow ihn in "Homeland" beschreibt.
Schenkt man ihren Aussagen Glauben — ich kann den Wahrheitsgehalt ihrer Lebensgeschichte aus naheliegenden Gründen weder beweisen noch widerlegen, gehöre aber zu den Leuten, die einer Regierung lieber einmal zu oft misstrauen als vertrauen —, dann erlebte sie unter anderem, wie man wissentlich zwei Unschuldige zu je zwanzig Jahren Gefängnis für die Anschläge auf die israelische Botschaft in London 1994 verurteilte, und wie der Auslandsgeheimdienst MI6 zwei Jahre später ein erfolgloses Attentat auf Muammar al-Gaddafi finanzierte, bei dem mehrere Zivilisten getötet wurden.
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Geheimdienst begann ein jahrelanges Katz- und Mausspiel. Annie und David flohen durch Europa, tauchten ab, wurden verhaftet, versuchten verzweifelt, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Buch, dessen Erscheinen von staatlicher Seite eine Menge Steine in den Weg gelegt wurden, wird heute zu irren Preisen secondhand gehalten. Eine gescannte Version davon gibt es auf scribd.com.
Es macht aber einen sehr großen Unterschied, eine solche Geschichte zu lesen, oder sie von jemand erzählt zu bekommen. Annie hat ihre Geschichte immer wieder erzählt — tatsächlich ist es das, was sie heute wohl beruflich tut — und man kann sich Videos ihrer Vorträge auf ihrer Homepage ansehen. (Inhaltlich ähneln sie sich, ich empfehle den in Kopenhagen, weil der am lebendigsten gefilmt ist.)
Er erzählt uns von der hässlichen Seite unserer Welt, die wir gern übersehen: Wie unsere eigenen Regierungen uns belügen, ausspionieren und unsere Bürgerrechte mit Füßen treten — einfach nur, weil sie es können. Gerade vor wenigen Tagen ging ein Fall durch die sozialen Netzwerke, in dem ein Opfer sexueller Drohungen sich Hilfe von der Polizei versprach und stattdessen einen Alptraum durchlebte. Corys Charakteren passiert so was ständig. Sie werden von der Staatsgewalt mit Kampfstoffen attackiert, ohne Anklage festgehalten, gedemütigt, gefoltert. Natürlich wissen wir, dass solche Dinge passieren. Wir glauben nur nicht, dass sie wirklich relevant für unser Leben sind.
Letzte Woche besuchte ich dann einen Vortrag der ehemaligen MI5-Agentin Annie Machon. Gemeinsam mit ihrem damaligen Lebensgefährtin David Shayler wurde sie zur Whistleblowerin, als sie die Machenschaften des Geheimdienstes nicht länger ertrug. Sie wurde Zeugin genau desselben selbstherrlichen Machtmissbrauchs, wie Cory Doctorow ihn in "Homeland" beschreibt.
Schenkt man ihren Aussagen Glauben — ich kann den Wahrheitsgehalt ihrer Lebensgeschichte aus naheliegenden Gründen weder beweisen noch widerlegen, gehöre aber zu den Leuten, die einer Regierung lieber einmal zu oft misstrauen als vertrauen —, dann erlebte sie unter anderem, wie man wissentlich zwei Unschuldige zu je zwanzig Jahren Gefängnis für die Anschläge auf die israelische Botschaft in London 1994 verurteilte, und wie der Auslandsgeheimdienst MI6 zwei Jahre später ein erfolgloses Attentat auf Muammar al-Gaddafi finanzierte, bei dem mehrere Zivilisten getötet wurden.
Nach ihrem Ausscheiden aus dem Geheimdienst begann ein jahrelanges Katz- und Mausspiel. Annie und David flohen durch Europa, tauchten ab, wurden verhaftet, versuchten verzweifelt, ihre Geschichte zu erzählen. Ihr Buch, dessen Erscheinen von staatlicher Seite eine Menge Steine in den Weg gelegt wurden, wird heute zu irren Preisen secondhand gehalten. Eine gescannte Version davon gibt es auf scribd.com.
Es macht aber einen sehr großen Unterschied, eine solche Geschichte zu lesen, oder sie von jemand erzählt zu bekommen. Annie hat ihre Geschichte immer wieder erzählt — tatsächlich ist es das, was sie heute wohl beruflich tut — und man kann sich Videos ihrer Vorträge auf ihrer Homepage ansehen. (Inhaltlich ähneln sie sich, ich empfehle den in Kopenhagen, weil der am lebendigsten gefilmt ist.)
So etwas zu hören, bringt einen dazu, wieder an Bradley Manning zu denken, der seit nunmehr tausend Tagen festgehalten wird. Lange Zeit verbrachte er isoliert, nackt, ohne Kissen und Bettzeug in seiner Zelle. Ihm droht eine lebenslange Haft, theoretisch die Todesstrafe. Eine der Anklagen lautet "aiding the enemy" — was er wirklich tat, war, der Öffentlichkeit die Gräueltaten der US-Armee zu zeigen. Die Öffentlichkeit ist also der Feind? (Siehe auch: Wikipedia, Amnesty International.)
Es bringt einen dazu, an Julian Assange zu denken, der nach wie vor versucht, einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, und den man effektiv zum Schreckgespenst stempelte, um den Diskurs zu ändern. Statt über die Dokumente zu berichten, die WikiLeaks der Welt zur Verfügung stellte, treten die Medien nur noch seine Persönlichkeit breit. "Always attack the man, not the ball", wie Annie so schön sagte. (Siehe auch: Diesen Eintrag von Ende 2010, mit Links zu einschlägigen Seiten.)
Wieso Regierungen so etwas tun? Abermals, weil sie es können. Und weil die Behörden und Machtstrukturen, von denen solche Gewalt ausgeht, ihre Gewalt ausüben, egal, wen wir alle vier Jahre wählen gehen. Das gilt insbesondere in Demokratien wie den USA und England, wo man nur die Wahl zwischen Pest und Cholera hat. Annie hält unsere Verfassung für solider, aber auch bei uns kennt man solche Fälle (Ich erinnere nur an Murat Kurnaz).
Die einzigen, von denen man vielleicht Hilfe erwarten könnte, wären die Gerichte. Aber auch die Gewaltenteilung versagt zunehmend in dem "Krieg", von dem Annie spricht: dem dreifachen, scheinheiligen "Krieg" gegen Drogen, gegen Terrorismus und gegen Urheberrechtsverletzungen, der potentiell alles sanktioniert, und der in Wahrheit ein Krieg gegen die Bürgerrechte ist.
Annie erinnert an ACTA, als das Europäische Parlament über ein auf Druck der Urheberrechtsindustrie zustande gekommenes Gesetz abstimmen sollte, das es in weiten Teilen zuvor nicht einmal lesen durfte.
Und ich muss an Aaron Swartz denken, dessen Nachwort zu "Homeland" ich morgen noch übersetzen werde. Aaron "stahl" wissenschaftliche Artikel von JSTOR (und tat damit im Wesentlichen, was ich mir während des Schreibens meiner Dissertation selbst mehrfach gewünscht hätte). Dafür drohten ihm bis zu 35 Jahre Gefängnis und 1 Million Dollar Strafe. Er erhängte sich am selben Tag, als Heyne mir das Manuskript schickte und ich seinen Namen zum ersten Mal las — ein makabrer Zufall.
Wir befinden uns in einem Krieg um die Information. Nicht in der guten alten Cyberpunk-Manier — es geht nicht darum, irgendwo einzubrechen und irgendwelche supergeheimen Daten zu stehlen. Genau das Gegenteil ist eingetreten: Die Informationen sind in vielen Fällen längst öffentlich (Facebook, so Annie, wäre zu ihrer Zeit der feuchte Traum eines jeden ihrer Kollegen gewesen). Der Krieg wird um ihre Kontrolle und Rezeption geführt. Was nimmt man zur Kenntnis? Was glaubt man, was nicht?
Wir müssen uns fragen, wie wir unsere Privatsphäre und unsere Kommunikation schützen können. Wie wir einen Staat, dem wir nicht automatisch vertrauen können, dass er das Richtige tut, aus unserem Leben auch ausschließen können, wenn wir das wünschen. Und wie wir einen Staat, wenn er Verbrechen begeht, zur Rechenschaft ziehen können. Plattformen wie WikiLeaks oder The Pirate Bay sind unverzichtbar für eine mündige und freie Informationsgesellschaft, die sich ihre Diskurse nicht von staatlicher Stelle oder staatlich beeinflussten Medienkonzernen diktieren lassen will. Mussolini definierte die effektive Verschmelzung von Staatsgewalt und dem, was man heute wohl als Konzerne bezeichnen würde, noch als Faschismus. Heute nennen wir es den freien Markt.
Ich weiß nicht, ob und wie wir jemals etwas wirklich ändern wollen — ob der Weg über demokratische Wahlen, unabhängige Gerichte, den Druck der Straße oder eine Kombination all dieser Dinge führt. Ansätze wie die von den Piraten ins Gespräch gebrachte Liquid Democracy könnten helfen und verdienen es, diskutiert zu werden. An erster Stelle aber stehen die informationelle Selbstbestimmung auf der einen und der freie Zugang zu staatlichen Informationen auf der anderen Seite. Beides dürfen wir uns als Bürger nicht nehmen lassen. Von einem "gläsernen Bürger" profitieren nur die Überwachungsorgane. Von einem gläsernen Staat profitieren wir alle. Quis custodiet ipsos custodes?
Es bringt einen dazu, an Julian Assange zu denken, der nach wie vor versucht, einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, und den man effektiv zum Schreckgespenst stempelte, um den Diskurs zu ändern. Statt über die Dokumente zu berichten, die WikiLeaks der Welt zur Verfügung stellte, treten die Medien nur noch seine Persönlichkeit breit. "Always attack the man, not the ball", wie Annie so schön sagte. (Siehe auch: Diesen Eintrag von Ende 2010, mit Links zu einschlägigen Seiten.)
Wieso Regierungen so etwas tun? Abermals, weil sie es können. Und weil die Behörden und Machtstrukturen, von denen solche Gewalt ausgeht, ihre Gewalt ausüben, egal, wen wir alle vier Jahre wählen gehen. Das gilt insbesondere in Demokratien wie den USA und England, wo man nur die Wahl zwischen Pest und Cholera hat. Annie hält unsere Verfassung für solider, aber auch bei uns kennt man solche Fälle (Ich erinnere nur an Murat Kurnaz).
Die einzigen, von denen man vielleicht Hilfe erwarten könnte, wären die Gerichte. Aber auch die Gewaltenteilung versagt zunehmend in dem "Krieg", von dem Annie spricht: dem dreifachen, scheinheiligen "Krieg" gegen Drogen, gegen Terrorismus und gegen Urheberrechtsverletzungen, der potentiell alles sanktioniert, und der in Wahrheit ein Krieg gegen die Bürgerrechte ist.
Annie erinnert an ACTA, als das Europäische Parlament über ein auf Druck der Urheberrechtsindustrie zustande gekommenes Gesetz abstimmen sollte, das es in weiten Teilen zuvor nicht einmal lesen durfte.
Und ich muss an Aaron Swartz denken, dessen Nachwort zu "Homeland" ich morgen noch übersetzen werde. Aaron "stahl" wissenschaftliche Artikel von JSTOR (und tat damit im Wesentlichen, was ich mir während des Schreibens meiner Dissertation selbst mehrfach gewünscht hätte). Dafür drohten ihm bis zu 35 Jahre Gefängnis und 1 Million Dollar Strafe. Er erhängte sich am selben Tag, als Heyne mir das Manuskript schickte und ich seinen Namen zum ersten Mal las — ein makabrer Zufall.
Wir befinden uns in einem Krieg um die Information. Nicht in der guten alten Cyberpunk-Manier — es geht nicht darum, irgendwo einzubrechen und irgendwelche supergeheimen Daten zu stehlen. Genau das Gegenteil ist eingetreten: Die Informationen sind in vielen Fällen längst öffentlich (Facebook, so Annie, wäre zu ihrer Zeit der feuchte Traum eines jeden ihrer Kollegen gewesen). Der Krieg wird um ihre Kontrolle und Rezeption geführt. Was nimmt man zur Kenntnis? Was glaubt man, was nicht?
Wir müssen uns fragen, wie wir unsere Privatsphäre und unsere Kommunikation schützen können. Wie wir einen Staat, dem wir nicht automatisch vertrauen können, dass er das Richtige tut, aus unserem Leben auch ausschließen können, wenn wir das wünschen. Und wie wir einen Staat, wenn er Verbrechen begeht, zur Rechenschaft ziehen können. Plattformen wie WikiLeaks oder The Pirate Bay sind unverzichtbar für eine mündige und freie Informationsgesellschaft, die sich ihre Diskurse nicht von staatlicher Stelle oder staatlich beeinflussten Medienkonzernen diktieren lassen will. Mussolini definierte die effektive Verschmelzung von Staatsgewalt und dem, was man heute wohl als Konzerne bezeichnen würde, noch als Faschismus. Heute nennen wir es den freien Markt.
Ich weiß nicht, ob und wie wir jemals etwas wirklich ändern wollen — ob der Weg über demokratische Wahlen, unabhängige Gerichte, den Druck der Straße oder eine Kombination all dieser Dinge führt. Ansätze wie die von den Piraten ins Gespräch gebrachte Liquid Democracy könnten helfen und verdienen es, diskutiert zu werden. An erster Stelle aber stehen die informationelle Selbstbestimmung auf der einen und der freie Zugang zu staatlichen Informationen auf der anderen Seite. Beides dürfen wir uns als Bürger nicht nehmen lassen. Von einem "gläsernen Bürger" profitieren nur die Überwachungsorgane. Von einem gläsernen Staat profitieren wir alle. Quis custodiet ipsos custodes?
It wasn't just the planetary devastation and global warming, it wasn't just the
foreign dictators we'd propped up or the private prison industry we supported at home. It
was all of it. It was the fact that there was all this terrible stuff and no one seemed to be able
to do anything about it. Not our political leaders. Not our police. Not our army. Not our
businesses. In fact, a lot of the time, it seemed like politicians, police, soldiers, and
businesses were the ones doing the stuff we wanted to put a stop to, and they said things
like, "We don't like it either, but it has to be done, right?" (Cory Doctorow, Homeland)
"Wir dürfen uns nicht länger dafür schämen, dass wir etwas runterladen. Wir dürfen uns nicht länger als Diebe und Betrüger beschimpfen lassen. ... Scheiß auf das Gesetz, scheiß auf die Bonzen der Industrie. Sie können uns nicht alle wegsperren ... Es wird
Tracked: Nov 25, 16:02