Saturday, March 3. 2018
Walking Sims
Ich und Videospiele: kurze Verortung
In meiner Jugend habe ich viele Adventures, wie man sie damals nannte, gespielt: King's Quest, Space Quest und überhaupt so ziemlich alles von den frühen Sierra On-Line. An diesen Spielen schätzte ich vor allem die Größe der Welten und Freiheit der Aktionsmöglichkeiten. Nachdem ich fünfzehn Jahre später meinen Atari ST gegen einen PC eintauschte, machte ich meine ersten Erfahrungen mit Ego-Shootern wie Unreal oder Deus Ex. Ich bin kein großer Freund von Gewalt in Videospielen, aber dreidimensionale Welten aus der Ichperspektive zu erleben war eine faszinierend neue Erfahrung. Dann spielte ich weitere fünfzehn Jahre lang praktisch gar nicht mehr, weil ich weder die Zeit noch das Geld dazu hatte.
Der Grund, weshalb ich mir letztlich doch wieder einen spielefähigen Rechner kaufte, war Bioshock Infinite, und dieses Spiel wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Es erzählt eine der fesselndsten Parallelweltgeschichten, die ich kenne, und seine Hauptfiguren Elizabeth und Booker berührten mich auf eine Weise, die ich nie zuvor in Spielen erlebt hatte. Dass diese Geschichte in Form eines Shooters erzählt wurde, war für mich dabei zweitrangig.
Eine Nachwirkung dieser Erfahrung war, dass ich recht schnell auf die Suche nach Spielen geriet, die mir eine ähnliche emotionale Erfahrung minus die Action boten. Denn das war's, was ich eigentlich wollte: Eine Welt betreten und ihre Bewohner kennenlernen. Nicht, gegen sie kämpfen zu müssen. Eine immersive Erfahrung wie bei einem Shooter – nur ohne das Schießen. Viele Gegner und Kämpfe stressen mich zu sehr; dasselbe gilt leider für ausgemachte Horrorspiele, gleich, was sie sonst für Qualitäten aufweisen.
Bald darauf fand ich heraus, dass man solche Spiele seit Dear Esther (2012) oft als "Walking Simulators" bezeichnet. Der Begriff wurde zunächst abwertend von jenen Gamern gebraucht, die für sich herausnehmen, zu entscheiden, was ein "echtes" (oft gleichbedeutend mit: kompetitives, militärisch angehauchtes, technisch perfektioniertes) Spiel ist und was nicht; bald wurde der Terminus von den Freunden solcher Spiele aber aufgegriffen und wird heute mehr oder weniger ironisch als Selbstbezeichnung verwendet – wohl auch, damit man nicht immer von "narrative driven, first-person adventure exploration video games" reden muss. Die meisten Walking Sims stammen von kleinen, experimentierfreudigen Studios und bemühen sich gezielt um die Inklusion neuer Themen und Käufer. Dank der tiefen Gräben in der amerikanische Gesellschaft und der oft groben Diskussionskultur in Spieleforen ist "Walking Simulator" auch ein überraschend politischer Begriff.
Natürlich gehen die Meinungen, was einen Walking Sim nun ausmacht, auseinander. Im Extremfall sind es Spiele, in denen man wirklich nur läuft – aber diese reine Lehre trifft man selten und wäre auch mir zu wenig. Häufig ist man in diesen Spielen recht einsam (was wohl auch eine Frage der Ressourcen ihrer Studios ist), und auch das ist schade. Im Vordergrund steht meist die Geschichte, die sich mehr oder weniger linear entspinnt, je weiter man in diesen Spielen vordringt: "most lack puzzles or any sort of barrier to experiencing the narrative, with the exception of finding objects. You cannot fail a task in a way that forces you to repeat it, and you cannot die." (Salon: "A brief history of the “walking simulator,” gaming’s most detested genre).
Man könnte sagen, der Walking Simulator ist die natürliche Form einer interaktiven Erzählung; weniger ein Videospiel-Genre als die Default-Entsprechung eines Romans oder Films, die vom Standpunkt der Spieltheorie tatsächlich nicht "Spiel" im Sinne eines Wettkampfs oder Glücksspiels, sondern eher im Sinne eines Theaterstücks ist. Ich spiele diese Spiele nicht, um zu gewinnen oder um Puzzles zu lösen, sondern weil mich die Figuren interessieren und mir das Medium die Möglichkeit gibt, an ihrer Geschichte, ihrem Leben teilzuhaben.
Die nachfolgende Aufstellung ist eine eklektisch sortierte Auswahl artverwandter Spiele, die mich im Laufe des letzten Jahres mehr oder minder begeistert haben.
Eine Top 10, die keine ist
Ausblick
Die Liste der Spiele, die ich noch vor mir habe, ist lang: The Fidelio Incident, Leaving Lyndow, Kona, Virginia, Adr1ft, event [0], The Painscreek Killings, Blackwood Crossing, The Old City: Leviathan. Noch kann ich nichts zu ihnen sagen, außer, dass sie für meinen Geschmack interessant sein könnten. Vielleicht liege ich bei einigen auch völlig falsch. Auf folgende drei Spiele mit noch unbekanntem Erscheinungsdatum freue ich mich aber jetzt schon:
In meiner Jugend habe ich viele Adventures, wie man sie damals nannte, gespielt: King's Quest, Space Quest und überhaupt so ziemlich alles von den frühen Sierra On-Line. An diesen Spielen schätzte ich vor allem die Größe der Welten und Freiheit der Aktionsmöglichkeiten. Nachdem ich fünfzehn Jahre später meinen Atari ST gegen einen PC eintauschte, machte ich meine ersten Erfahrungen mit Ego-Shootern wie Unreal oder Deus Ex. Ich bin kein großer Freund von Gewalt in Videospielen, aber dreidimensionale Welten aus der Ichperspektive zu erleben war eine faszinierend neue Erfahrung. Dann spielte ich weitere fünfzehn Jahre lang praktisch gar nicht mehr, weil ich weder die Zeit noch das Geld dazu hatte.
Der Grund, weshalb ich mir letztlich doch wieder einen spielefähigen Rechner kaufte, war Bioshock Infinite, und dieses Spiel wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Es erzählt eine der fesselndsten Parallelweltgeschichten, die ich kenne, und seine Hauptfiguren Elizabeth und Booker berührten mich auf eine Weise, die ich nie zuvor in Spielen erlebt hatte. Dass diese Geschichte in Form eines Shooters erzählt wurde, war für mich dabei zweitrangig.
Eine Nachwirkung dieser Erfahrung war, dass ich recht schnell auf die Suche nach Spielen geriet, die mir eine ähnliche emotionale Erfahrung minus die Action boten. Denn das war's, was ich eigentlich wollte: Eine Welt betreten und ihre Bewohner kennenlernen. Nicht, gegen sie kämpfen zu müssen. Eine immersive Erfahrung wie bei einem Shooter – nur ohne das Schießen. Viele Gegner und Kämpfe stressen mich zu sehr; dasselbe gilt leider für ausgemachte Horrorspiele, gleich, was sie sonst für Qualitäten aufweisen.
Bald darauf fand ich heraus, dass man solche Spiele seit Dear Esther (2012) oft als "Walking Simulators" bezeichnet. Der Begriff wurde zunächst abwertend von jenen Gamern gebraucht, die für sich herausnehmen, zu entscheiden, was ein "echtes" (oft gleichbedeutend mit: kompetitives, militärisch angehauchtes, technisch perfektioniertes) Spiel ist und was nicht; bald wurde der Terminus von den Freunden solcher Spiele aber aufgegriffen und wird heute mehr oder weniger ironisch als Selbstbezeichnung verwendet – wohl auch, damit man nicht immer von "narrative driven, first-person adventure exploration video games" reden muss. Die meisten Walking Sims stammen von kleinen, experimentierfreudigen Studios und bemühen sich gezielt um die Inklusion neuer Themen und Käufer. Dank der tiefen Gräben in der amerikanische Gesellschaft und der oft groben Diskussionskultur in Spieleforen ist "Walking Simulator" auch ein überraschend politischer Begriff.
Natürlich gehen die Meinungen, was einen Walking Sim nun ausmacht, auseinander. Im Extremfall sind es Spiele, in denen man wirklich nur läuft – aber diese reine Lehre trifft man selten und wäre auch mir zu wenig. Häufig ist man in diesen Spielen recht einsam (was wohl auch eine Frage der Ressourcen ihrer Studios ist), und auch das ist schade. Im Vordergrund steht meist die Geschichte, die sich mehr oder weniger linear entspinnt, je weiter man in diesen Spielen vordringt: "most lack puzzles or any sort of barrier to experiencing the narrative, with the exception of finding objects. You cannot fail a task in a way that forces you to repeat it, and you cannot die." (Salon: "A brief history of the “walking simulator,” gaming’s most detested genre).
Man könnte sagen, der Walking Simulator ist die natürliche Form einer interaktiven Erzählung; weniger ein Videospiel-Genre als die Default-Entsprechung eines Romans oder Films, die vom Standpunkt der Spieltheorie tatsächlich nicht "Spiel" im Sinne eines Wettkampfs oder Glücksspiels, sondern eher im Sinne eines Theaterstücks ist. Ich spiele diese Spiele nicht, um zu gewinnen oder um Puzzles zu lösen, sondern weil mich die Figuren interessieren und mir das Medium die Möglichkeit gibt, an ihrer Geschichte, ihrem Leben teilzuhaben.
Die nachfolgende Aufstellung ist eine eklektisch sortierte Auswahl artverwandter Spiele, die mich im Laufe des letzten Jahres mehr oder minder begeistert haben.
Eine Top 10, die keine ist
- LIFE IS STRANGE (Dontnod Entertainment, 2015): Max Caulfield kehrt in ihren Heimatort zurück. Als sie eine Gewalttat an ihrer Schule verhindern will, entdeckt sie, dass die Gabe hat, die Zeit zurückzudrehen. Kurz darauf trifft sie ihre alte Freundin Chloe wieder.
Der "Teenage-Girl-Simulator" Life is Strange findet sich vor allem deshalb in dieser Aufstellung, weil er inzwischen mein Lieblingsspiel ist. Ob er wirklich ein Walking Sim ist, sei dahingestellt; es ist das einzige Spiel auf dieser Liste, das nicht die Egoperspektive, sondern eine Spielfigur benutzt. Max' Gabe der Zeitmanipulation ist eine komplexe Spielmechanik, mit der man auch viel falsch machen kann; gleichzeitig verlässt sich das Spiel stark auf Zwischensequenzen, ist stellenweise also eher ein interaktiver Film mit Auswahlmenüs. Was das Spiel enorm gut schafft, ist die emotionale Bindung an die Figuren. Arcadia Bay hat viele Bewohner, alle wachsen sie einem ans Herz, und insbesondere Chloe ist für die Spielerfahrung ähnlich zentral wie die oben erwähnte Elizabeth. Das Spiel, das ästhetisch und inhaltlich irgendwo zwischen Donnie Darko, Twin Peaks und The Perks of Being a Wallflower changiert, lässt einem mit einem ähnlichen Gefühl wie eine gut besetzte HBO-Serie zurück – und das ist außergewöhnlich angesichts so vieler Spiele, die aus Detektivarbeit in leeren Welten bestehen. 5/5 - LIFE IS STRANGE: BEFORE THE STORM (Deck Nine, 2017): In den Jahren vor Max' Rückkehr gerät Chloe in den Bann der aufregenden Rachel Amber und ihrer Geheimnisse.
Die nachgeschobene Vorgeschichte zu Life is Strange, in der Chloe die Hauptrolle innehat, braucht sich hinter dem ersten Spiel nicht zu verstecken. Da Chloe im Gegensatz zu Max auch keine übernatürlichen Fähigkeiten besitzt, ist die Erfahrung sogar noch etwas "realistischer", das pubertäre Drama und die "Feelz" noch hochgejazzter. Ausgestattet mit dem Wissen des Vorgängers, ergibt sich eine außerordentlich dichte Welt, die zugleich bedrohlich-düster wie anheimelnd und im besten Sinne jugendlich ist. 5/5 - THE VANISHING OF ETHAN CARTER (The Astronauts, 2014): Der übersinnlich begabte Ermittler Paul Prospero erkundet ein abgelegenes Tal in der Wildnis, um das Verschwinden eines kleinen Jungen aufzuklären.
A propos Detektivarbeit in leeren Welten: Das ist genau, was man hier tut. Einzelne Schauplätze – Friedhöfe, Bergwerke, verfallene Häuser – halten verschiedene Puzzles und Minigames bereit; das Spiel bleibt abwechslungsreich, hat eine extrem schöne Grafik, eine flüssige Steuerung und eine schwermütige, teils Lovecraft-inspirierte Stimmung. Das Einzige, was mir missfiel, war, dass zum Ende – das mich an sich begeistert hat – das wenige, das man über Prospero zu wissen glaubt, en passent umdefiniert wird; eine Art von Twist (wer bin ich eigentlich und was tue ich hier?), die in Videospielen leider viel zu häufig angewendet wird und in Buch und Film nicht funktionieren würde (ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob sie überhaupt funktioniert). Bis auf ein paar Brüche ein hervorragendes Spiel, bemerkenswerterweise von einem Entwickler, den man aufgrund seiner öffentlichen Einlassungen eher auf Seiten derer vermuten würde, welche Walking Sims als Ausgeburten der links-liberal feministischen Weltverschwörung sehen. 4/5 - GONE HOME (The Fullbright Company, 2013): Katie kommt zu früh auf Besuch und verliert sich in den Erinnerungen ihres leeren Elternhauses.
Was uns eigentlich direkt zu Gone Home bringt, denn hier nimmt vieles, was den Gegnern solcher Spiele verhasst ist, seinen Anfang: kein "echtes" Spiel, nur Charakterstory, und dann auch noch eine lesbische Liebesgeschichte. Im Kontext der Gamergate-Kontroverse wurde Gone Home eins der am häufigsten zitierten Spiele, die nach Meinung antifeministischer Stimmungsmacher zu viel ungerechtfertigtes Lob in den Medien erfuhren.
Als jemand, der das Spiel erst vier Jahre später entdeckte, freute ich mich vor allem über die gefällige Steuerung (ironischerweise leider eine Seltenheit in Walking Sims) und die schöne Atmosphäre, die gelegentlich eine Spukgeschichte anteasert, ohne je eine zu werden. Der thematische und handwerkliche Einfluss auf spätere Spiele ist offensichtlich, aber insgesamt blieb mein Eindruck hinter den Erwartungen zurück; so ähnlich, wie wenn man sich die Band anhört, die von der Lieblingsband immer als Vorbild genannt wird, der Funke aber nicht ganz überspringt.
Das Haus, das man erkundet, ist voll mit irrelevanten Objekten; die unchronologische Stöberei stört den narrativen Fluss, weil kein richtiger Spannungsbogen entsteht; und die Wahl einer (fast) stillen Protagonistin ist meines Erachtens ein Fehler, weil man sich häufig eine emotionale Reaktion Katies zu den aufgedeckten Familiengeheimnissen wünscht, aber in die stumme Beobachterrolle verbannt bleibt. 3/5 - TACOMA (Fullbright, 2017): Die Besatzung der namensgebenden Raumstation ist verunglückt. Amy wird an Bord geschickt, um wichtige Daten zu bergen.
Der Nachfolger zu Gone Home hat eigentlich eine tolle Prämisse (genau dasselbe – nur im Weltraum!), funktioniert meines Erachtens aber leider noch schlechter. Der Aufbau des Spiels ist deutlich linearer, gibt einem aber keinen echten Grund, sich überhaupt für die Lebensgeschichte der Stationsbewohner zu interessieren – außer, dass man gezwungen ist, einen festen Zeitraum in jedem Abschnitt zu verbringen. Also schaut man sich entweder an Bord um oder man lässt das Spiel einfach laufen und geht einen Kaffee kochen – gute Spielermotivation sieht anders aus. Am Ende gibt es einen kleinen Twist, der den Abschluss etwas netter macht, aber wiederum nur funktioniert, weil das Spiel einem bis dahin zentrale Informationen über die passive Hauptfigur vorenthielt. Für mich das schwächste Spiel auf dieser Liste, vor allem erwähnenswert in seiner Eigenschaft als "Floating Sim" in den schwerelosen Bereichen. 2/5 - DEAR ESTHER (The Chinese Room, 2012): Eine psychedelische Wanderung über eine Insel und durch das Unterbewusste.
Dear Esther – oh dear indeed. Dies ist das Spiel, das man als Erstes in Ermangelung eines besseren Begriffs als "Walking Sim" bezeichnete, und ich mochte es auch – aber eigentlich ist es eine Katastrophe. Das Äquivalent zu einem Darren-Aronofsky-Film, erzählt in freien Versen von einem Achtzehnjährigen im Rollkragenpulli. Grafik: Wunderschön, man kann das Wetter auf den Hebriden förmlich spüren. Der Soundtrack von Komponistin Jessica Curry: schlicht grandios. Die Bewegung: als hätte die Spielfigur beide Beine in Gips, jedes Brett auf dem Boden ein unüberwindliches Hindernis. Aktionsmöglichkeiten: keine, man stakst voran und lauscht der Erzählung. Die Geschichte: eine prätentiöse Aneinanderreihung dramatischer Zeilen voll leerer Metaphern und bewusster Widersprüche, die aus dem Versuch entstanden, verschiedenen Fantheorien Rechnung zu tragen. Ergebnis ist eine wilde, nicht auflösbare Assoziationskette über Schuld und Verdrängung: vier Figuren, die teilweise irgendwie dieselbe sind; eine Frau, die bei einem Autounfall starb; die Vergangenheit, die einem folgt, wohin man auch flieht. Wenn man das Ganze als eine Art elegischen Bewusstseinsstrom akzeptiert, hat es eine tolle Atmosphäre, man sollte bloß keine Erklärung erwarten. 3/5 - EVERYBODY'S GONE TO THE RAPTURE (The Chinese Room, 2015): Alle sind fort. Aber ist das schlimm? Traurig? Oder finden wir endlich unseren Frieden ...?
Der Nachfolger zu Dear Esther macht manches besser und vieles mit Inbrunst genau wie zuvor. Die preisgekrönte Musik, die Grafik, die tiefe Melancholie machen das Spiel zu einer fast spirituellen Erfahrung; die Geschichte, obgleich bewusst mysteriös und vage, ergibt diesmal gefühlten Sinn; die Bewegung durch die Welt jedoch ist immer noch ermüdend, die "Laufen"-Taste ein Witz und die einzige Spielmechanik (das Aktivieren der Flashbacksequenzen) so arbiträr, dass man sie in den Einstellungen auch gleich abschalten kann.
Wieder erforscht man eine verlassene Landschaft, ein idyllisches englisches Dorf, dessen Bewohner unter geheimnisvollen Umständen verschwanden. Wie bei Tacoma erschließt sich die Geschichte über Flashbacks, die von leuchtenden Silhouetten nachgespielt werden. Das Hauptproblem hierbei ist wie so oft, dass man währenddessen zum passiven Zuschauer verdammt wird; und leider legt einem die Steuerung so viele Steine in den Weg, dass man unwillig ist, die Welt mit dem nötigen Elan zu erforschen. Mehr als einmal entdeckte ich den Ankerpunkt einer weiteren Flashback-Sequenz in der Ferne – aber im Schneckentempo eine weitere Wiese zu überwinden, nur um als Belohnung zwei Minuten lang einem Streit zwischen gesichtslosen Nebenfiguren zu lauschen, schien mir die Mühe nicht wert. Das Bedauern über das Verpasste war nicht halb so groß wie das über die verschenkten Möglichkeiten eines fantastischen Szenarios, das ich gerne mehr geliebt hätte.
Gerade Spiele, die auf Neugierde und Forscherdrang des Spielers angewiesen sind, sollten die Erkundung der Welt so einfach und lohnenswert wie möglich machen – stattdessen legt The Chinese Room dem Spieler – aus Angst, die Kontrolle über das fragile Zusammenspiel aus Geschichte, Schauplatz und Musik abzugeben – erneut ein Korsett an. 3/5 - WHAT REMAINS OF EDITH FINCH (Giant Sparrow, 2017): Die junge Edith kehrt in das surreale Haus ihrer Kindheit zurück, um sich und ihrem ungeborenen Kind die eigene Familiengeschichte zu erschließen.
What Remains of Edith Finch ist in jeder Hinsicht ein Kunstprodukt; die postmoderne Rokoko-Version von Gone Home und ähnlichen Spielen. Wieder erforscht man ein leeres Haus, wieder spürt man der Geschichte der eigenen Familie nach. Diesmal aber birgt jeder Raum ein eigenes Minispiel, und jedes Spiel ist sein eigenes Genre, das häufig die Grenzen des Mediums verwischt und bricht. Das Spiel wird zum Comic, der Comic zum Film; Untertitel werden zum Spielobjekt, und die Ebenen verschachteln sich wie Matrjoschka-Puppen. Edith hat (im Gegensatz zu Katie aus Gone Home) eine Stimme und eine Persönlichkeit, und man lernt jedes Familienmitglied im Lauf des kurzen Spiels kennen und lieben; trotz der formalen Spielereien ist die Geschichte enorm feinfühlig, die Welt von einem magischen Realismus und einem schwarzen, aber niemals menschenfeindlichen Humor beseelt. Das Ende rührt einen auch nach nur vier Stunden Spielzeit zu Tränen. Das einzige Manko waren die wie so oft unzureichenden Interaktions- und Bewegungsmöglichkeiten. Die Fortbewegung im Haus ist mühsam, nichts außerhalb der Minispiele von Bedeutung. Hätte man Rahmenhandlung und Setting ebenso liebevoll gestaltet wie die Geschichten-in-der-Geschichte, wäre es für mich ein Meisterwerk. 5/5 - FIREWATCH (Campo Santo, 2016): Ein beschaulicher Sommer in einem Feuerwachturm in Wyoming führt Tag für Tag tiefer in eine hausgemachte Katastrophe.
Firewatch ist das beste Spiel auf dieser Liste. Punkt. Life is Strange liebe ich vielleicht noch inniger, aber insbesondere für einen "Walking Sim" ist Firewatch das bessere Spiel. Man merkt den Entwicklern die Erfahrung an, die sie bei Gone Home gesammelt haben (die Mechanik, mit der man Gegenstände aufnimmt und wieder zurücklegt, ist dieselbe wie in den Fullbright-Spielen). Man kann sich frei und angemessen schnell bewegen, man klettert und kriecht, kurz, man fühlt sich körperlich als Teil dieser Welt und nicht nur als Tourist auf Schienenschleichfahrt. Ein echtes Inventar gibt es zwar nicht, aber das Aufnehmen und Untersuchen von Gegenständen wird belohnt, denn man kann verschiedenste Objekte (Kleidung, Ausrüstung, Andenken) auch mitnehmen.
Das Wichtigste aber – und was Firewatch von allen Spielen außer Life is Strange auf dieser Liste unterscheidet – ist, dass beide Protagonisten echte, runde, handelnde Charaktere sind, keine leeren Projektionsflächen oder Erinnerungen. Und obwohl es nur zwei sind, ist ihre Beziehung enorm komplex: Henry jobbt als Feuerwächter im Nationalpark, weil sein Leben zuhause (seine Frau lebt demenzkrank in einem Heim) ihn überfordert. Und auch Delilah, seine Kollegin im Ausguck auf dem nächsten Berg, hat ihre Baustellen; jeder in diesem Spiel scheint auf der Flucht vor sich selbst zu sein. Dem Spiel gelingt das Kunststück, dass man sich niemals einsam fühlt, während man durch die Wildnis streift, der einzige menschliche Kontakt Delilahs Stimme am Funkgerät. Die Dialoge und das Voice Acting setzen einen neuen Standard für Spiele, und die Geschichte, die zwischen Hemingway und Hitchcock in immer paranoidere Gefilde abgleitet, während ein außer Kontrolle geratener Waldbrand die Spielwelt bedroht, schafft es, stets mehr über die Figuren zu transportieren, als ausgesprochen wird – gelegentlich mehr, als ihnen selbst bewusst ist. Tatsächlich gibt es für fast jedes Rätsel eine Erklärung, bloß sind diese teilweise etwas zu gut versteckt und nur an bestimmten Tagen der Spielhandlung auffindbar. Und während Spiele wie Gone Home oder sogar Edith Finch jedes Mal die gleiche Erfahrung bieten, schafft es Firewatch mittels tausend kleiner Variationen – von der Wahl der passenden Dialogzeile bis zur Wahl der passenden Baseballmütze – jeden Durchgang zu einem persönlichen Erlebnis zu machen. 5/5 - Honorable Mention: PHONING HOME (Ion Lands, 2017): Zwei Roboter erkunden einen exotischen Planeten auf der Suche nach Rohstoffen für die Heimkehr.
Phoning Home ist eigentlich kein Walking Sim, wird aber gelegentlich als einer diskreditiert und qualifiziert sich damit für diese Liste. Tatsächlich verbringt man viel Zeit damit, als Roboter ION (der stark an WALL-E erinnert) die große und wunderschöne Spielwelt zu erkunden; das Spiel bedient sich jedoch auch zahlreicher Puzzle-, Survival- und Escort-Mission-Elemente. Meine Sorge um die kleine ANI (sie rostet immer so schlimm!) nahm bald schon obsessive Züge an, und diese Form von Bindung ist für mich ein Plus. Wer gerne auch mal springt und etwas ballert (ein bisschen Portal-Erfahrung schadet ebenfalls nicht), der wird mit diesem Spiel seine Freude haben. Und solange es nicht regnet, kann man mit ANI Blumen pflücken und sich ihre fiepsigen Spinnereien anhören. 4/5
Ausblick
Die Liste der Spiele, die ich noch vor mir habe, ist lang: The Fidelio Incident, Leaving Lyndow, Kona, Virginia, Adr1ft, event [0], The Painscreek Killings, Blackwood Crossing, The Old City: Leviathan. Noch kann ich nichts zu ihnen sagen, außer, dass sie für meinen Geschmack interessant sein könnten. Vielleicht liege ich bei einigen auch völlig falsch. Auf folgende drei Spiele mit noch unbekanntem Erscheinungsdatum freue ich mich aber jetzt schon:
- In The Valley of Gods, das nächste Spiel von Campo Santo: Weil sie für mich bewiesen haben, dass sie dieses junge Form interaktiver, stimmungsvoller Geschichten am besten beherrschen. Firewatch bot mir die richtige Mischung aus freier Entfaltung und dramaturgischer Konzeption, und ich bin sehr gespannt, was mich in Ägypten erwartet.
- Life is Strange Season 2, diesmal wieder von Dontnod: Hier wird es schwieriger, an die Vorgänger anzuknüpfen, denn diesmal werden es neue Figuren, ein neuer Schauplatz und eine neue Geschichte sein, und die riesige Fangemeinde ist sehr uneins, was genau den Charakter von Life is Stange eigentlich ausmacht: übernatürliche Fähigkeiten? Lebensverändernde Entscheidungen? Gleichgeschlechtliche Liebe? Nur bei Star Wars kann man mehr falsch machen – aber ich bin guter Dinge, dass die Autoren mich nicht enttäuschen.
- Das erste Spiel von Ghost Story Games, der neuen Firma von Ken Levine (Bioshock). Das wird mit Sicherheit kein Walking Simulator – aber garantiert eine erlebenswerte Geschichte.
Posted by JL
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#1 - André 2019-12-08 19:01 -
Hast du schon etwas von dem Spiel "Soma" gehört? Atmosphärisch dicht und unheimlich beeindruckend. Das würde gut in diese Liste der immersiven Spiele passen.
#1.1 - JL said:
2019-12-08 19:52 -
Da habe ich die starke Vermutung, dass es mir persönlich zu horrorbetont ist -- ich hätte schon mit den ersten beiden Bioshock-Teilen meine Probleme. Vielleicht sehe ich es mir aber doch einmal an ... danke für die Empfehlung!