Friday, July 28. 2017
Was will die Fee?

Seit gut fünfzig Jahren meinen Literaturwissenschaftler und Buchhändler komplett verschiedene Dinge, wenn sie von "Phantastik" reden. Erstere denken zunächst an die Literatur der Verunsicherung, wie sie (mehr oder weniger brauchbar) von Caillois, Todorov und anderen beschrieben wurde, letztere sehen darin einen drollig geschriebenen Oberbegriff für Fantasy, Science-Fiction und Horror (also landläufig Elfen, Raumschiffe oder Vampire – die drei großen Embleme, die seit hundert Jahren so ziemlich jeder versteht).
Das ist wie gesagt ein altes Problem, das ich hier auch nicht auflösen kann, denn Literaturwissenschaft interessiert sich nicht für Werbeschubladen (und bedauerlicherweise nur selten für Feen) und der Buchhandel nicht für kleinkarierte Feinheiten.
Was mir beim Lesen des Lake-Hermanstadt-Artikels jedoch auffiel (und mir wie ein exzellenter, kaum offensichtlicher Vorwand erschien, mal wieder auf meine Doktorarbeit zum Thema hinzuweisen), ist das immanente Durcheinander von Kategorien in diesem Diskurs, sowie die auffällige Bedeutung, die dabei den Reaktionen des Lesers und den Intentionen des Autors zukommt – unscharfe Kriterien, um welche die Literaturwissenschaft sonst gerne einen Bogen schlägt wie unsere drei Embleme um Orks, schwarze Löcher und Knoblauch.
Dies beginnt bereits mit der Feststellung, dass von besagten drei Genres die Science-Fiction als einziges wahrhaft spekulativen Charakter besitzt (dem im englischen Sprachraum populärem Sammelbegriff der speculative fiction zum Trotz). Tatsächlich ist die SF die Einzige, die tapfer an ihre eigene Realisierbarkeit glaubt, was sich auch in John Clutes sehr eleganten Unterscheidung zwischen Fantasy und SF niederschlägt:
Though fantasy certainly existed for many centuries [...] whenever stories were told which were understood by their authors (and readers) as being impossible, it is quite something else to suggest that the perceived impossibility of these stories was their point – that they stood as a counter-statement to a dominant worldview.
Science Fiction can be distinguished from fantasy on several grounds; but in our terms the most significant difference is that Science Fiction tales are written and read on the presumption that they are possible – if perhaps not yet.1
Vielleicht wäre es daher sinnvoller (wenn man nicht meine orthographisch gewollt wirkende Unterscheidung zwischen "fantastisch" und "Phantastik" fortschreiben möchte), wie Marco Frenschkowski von "imaginativer Literatur" zu sprechen, wann immer man es mit fantastischen, spekulativen oder anderweitig feenwirksamen Elementen zu tun hat.2 Jedoch habe ich arge Zweifel, dass das Fenster für die Popularisierung neuer oder übersehener Begrifflichkeiten in dieser Debatte noch offen steht – weswegen wir alternativ auch einfach weiter von Feenliteratur sprechen können.
Noch komplizierter wird es nun, wenn man versucht, die Kategorie des (supernatural) horror mit ins Boot zu holen. In dem Artikel auf Lake Hermanstadt heißt es zurecht:
Während Fantasy und SF Genres sind, trifft das auf Horror nicht wirklich zu. Horror ist ein Begriff der Ästhetik, nicht der Poetik. Ästhetisch gesehen sind Terence Fishers Dracula, Roman Polanskis Rosemary’s Baby und William Friedkins The Exorcist Horror, genremäßig sind sie Fantasy. Ganz ähnlich ist Ridley Scotts Alien ästhetisch Horror und genremäßig SF, oder Jonathan Demmes Silence of the Lambs ästhetisch Horror, aber genremäßig ein Thriller. Fantasy, SF und Horror auf eine Ebene zu stellen, ist, als würde man Aprikosen, Erdbeeren und Obstkerne auf eine Ebene stellen.
Tatsächlich ist die eigentliche Phantastik in der Traditionslinie von Poe über Lovecraft bis zu King (je nach Tagesform) und Ligotti, die von Buchhandel und weiten Teilen der Leserschaft als "Horror" identifiziert wird, kaum zu fassen, ohne besonderes Augenmerk auf die ästhetische Inszenierung und Leserreaktion zu legen.
Diese Einsicht findet sich implizit schon bei Caillois, der im Phantastischen den berühmten "Riss, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt" sieht, in dem
das Wunder zu einer verbotenen Aggression [wird], die bedrohlich wirkt, und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.3
Ich persönlich hielt diese Forderung nach einer Weltsicht, in der "das Wunder Angst hervorrufen musste", es "unzulässig und erschreckend" geworden war, immer für arbiträr.4 (Tatsächlich war mein gerechter studentischer Zorn auf Caillois einer der Hauptgründe, weshalb ich Fairwater schrieb). Weshalb soll es so undenkbar sein, dass ein entsprechend geneigter Protagonist den Einbruch des bis dato Unmöglichen in seiner Welt willkommen heißt? Der erschreckende oder verstörende Effekt von Phantastik hat abgesehen von ihren klassischerweise unliebsamen Antagonisten (Vampire, Geister, Große Alte) zumeist auch einfach formale Gründe – nämlich dass die Erzählung im Moment des größten Schreckens abbricht, ohne eine Auflösung, insbesondere eine glückliche, zuzulassen. Nicht ohne Grund blüht das Genre in Kurzgeschichten, wie auch Lake Hermanstadt bemerkt.
Ehrlicher fand ich es daher immer, wenn man diesen Effekt des Schreckens nicht als logische Ableitung, sondern als grundlegende Absicht des Genres auffasst, auch wenn das heißt, den intendierten oder gar tatsächlichen Leser zum Kriterium der Phantastik zu machen. So bekanntermaßen H.P. Lovecraft in seinem programmatischen "Supernatural Horror in Literature":
Atmosphere is the all-important thing, for the final criterion of authenticity is not the dovetailing of a plot but the creation of a given sensation. [...] Therefore we must judge a weird tale not by the author's intent, or by the mere mechanics of the plot; but by the emotional level which it attains at its least mundane point. [...] The one test of the really weird is simply this – whether or not there be excited in the reader a profound sense of dread, and of contact with unknown spheres and powers.5
Gegen einen solchen Ansatz richtet sich dagegen Tzvetan Todorov in seinem einflußreichen Theoriewerk:
The sentiment of fear or perplexity is often invoked by theoreticians of the fantastic [...]. Caillois, too, proposes as a 'touchstone of the fantastic [...] the impression of irreducible strangeness.' It is surprising to find such judgments offered by serious critics. If we take their declarations literally – that the sentiment of fear must occur in the reader – we should have to conclude that a work's genre depends on the sang-froid of its reader. Nor does the determination of the sentiment of fear in the characters offer a better opportunity to delimit the genre. In the first place, fairy tales can be stories of fear, as in the case of Perrault [...]. Moreover, there are certain fantastic narratives from which all terror is absent [...]. Fear is often linked to the fantastic, but it is not a necessary condition of the genre.6
Stattdessen fordert er von einem phantastischen Text die gezielte Verunsicherung des Lesers ein:
The fantastic requires the fulfillment of three conditions. First, the text must oblige the reader to consider the world of the characters as a world of living persons and to hesitate between a natural and a supernatural explanation of the events described. Second, this hesitation may also be experienced by a character [...]. Third, the reader must adopt a certain attitude with regard to the text: he will reject allegorical as well as 'poetic' interpretations.7
Das "rein" Phantastische okkupiert laut Todorov die gedachte Trennlinie zwischen den Reichen des Wunderbaren und des Profanen – er benutzt also weitgehend dasselbe Modell zweier überlappender Ereignissphären oder Welten wie Caillois (die Trennlinie des einen ist der Riss des anderen), angereichert mit der Forderung nach Unentscheidbarkeit.
Und genau diese Forderung, um den Kreis zu schließen, greift Stanislaw Lem wiederum an:
Laut Caillois, sagt Todorov höhnisch, ist die Gattungszugehörigkeit eines Werkes vom Grad der Nervenstärke seiner Leser abhängig. Erschrickt der Leser, so haben wir es mit dem Unheimlich-Phantastischen zu tun; bewahrt er kaltes Blut, so gehört das Werk einer anderen Gattung an. [...] Warum eigentlich ist die Nervenstärke eines Lesers [...] kategoriell etwas anderes als die Unschlüssigkeit des Lesers, die Todorov zum Prüfstein seiner Theorie des Phantastischen macht?8
Vielleicht sollte es nicht verwundern, dass in einer von Surrealisten, Strukturalisten und Schriftstellern geführten Debatte am Ende ein Traumfänger aus Erdbeeren, Aprikosen und Obstkernen steht. Auch ich trage mit meinen widersprüchlichen Sichtweisen als Textproduzent und -rezipient sicher nicht zu einer Präzisierung der Begrifflichkeiten bei.
Aufgrund meiner doppelten Sichtweise halte ich es aber für legitim, nach der Haltung eines Texts, der Intention des Autors und der Reaktion des Lesers zu fragen (die in einer idealen Welt trotz Lovecrafts Zweifeln durchaus in Kongruenz stehen sollten): Versteht sich ein Text als Abbildung einer (theoretischen oder zukünftigen) Wirklichkeit? Möchte er (konfliktfrei) eine Gegenwelt zur allgemein akzeptierten Realität™ zeichnen? Geht es dem Autor darum, dem Leser im Moment der größten Fallhöhe den Boden unter den Füßen wegzuziehen? Oder hat er einfach nur das falsche Pfeifenkraut geraucht und möchte eigentlich eine Allegorie auf den bornierten Beamtenapparat einer südamerikanischen Provinz der Siebzigerjahre erzählen, die aus unerfindlichen Gründen von Klavier spielenden Haifischen regiert wird? (Hierzu ließen sich mehrere andere Artikel verfassen, aber nicht von mir.)
Diese Fragen, so unpräzise sie sein mögen, sind es wert, gestellt zu werden, wenn man sich eine Navigationshilfe bei der Erkundung des weiten Lands der Feenliteratur wünscht – vielleicht gerade, weil sie so grundlegende und persönliche Konzepte von Realitätswahrnehmung, Wunschdenken und vielleicht auch Religiosität berührt. Mit einem reinen Emblemkatalog wird man ebenso an seine Grenzen stoßen wie mit einem präskriptiv angehauchten Modell oder Regelwerk.
Probiert die Fee zu fangen, fragt sie, was sie von euch will – und dann lasst sie bitte wieder fliegen.
Fußnoten:
1 Clute, "Fantasy", 338.
2 Frenschkowski, "Ist Phantastik postreligiös?"
3 Caillois, "Das Bild des Phantastischen", 45f.
4 Caillois, "Das Bild des Phantastischen", 48.
5 Lovecraft, "Supernatural Horror in Literature", 368.
6 Todorov, The Fantastic, 35.
7 Todorov, The Fantastic, 33.
8 Lem, "Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen", 114.
Literatur und Links:
Clute, John, "Fantasy". In ders., John Grant eds., The Encyclopedia of Fantasy. London: Orbit, 1997, 337-39.
Caillois, Roger, "Das Bild des Phantastischen: Vom Märchen bis zur Science Fiction". In Rein A. Zondergeld ed., Phaïcon 1. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1974, 44-83.
Frenschkowski, Marco, "Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen". In Clemens Ruthner, Ursula Reber und Markus May eds., Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Francke 2006, 31-51.
Lem, Stanislaw, "Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen". In Rein A. Zondergeld ed., Phaïcon 1. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1974, 92-122.
Lovecraft, H.P., "Supernatural Horror in Literature". In ders., Dagon and other Macabre Tales. August Derleth, Donald Wandrei, S.T. Joshi eds., Sauk City: Arkham House, 1987, 365-444.
Murilegus rex, "Phantastik vs. Fantasy: Erste Runde". 2017.
https://hermanstadt.blogspot.de/2017/07/phantastik-vs-fantasy-erste-runde.html
Plaschka, Oliver. Verlorene Arkadien: Das pastorale Motiv in der englischen und amerikanischen fantastischen Literatur – H.P. Lovecraft, James Branch Cabell, Mervyn Peake, William Gibson. 2009.
http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/10106
Reß, Alessandra, "Die Fee ist immer da: Genres der Phantastik". 2017.
https://fragmentansichten.com/2017/06/19/die-fee-ist-immer-da/
Todorov, Tzvetan, The Fantastic (Introduction à la litérature fantastique). London: The Press of Case Western Reserve University, 1973.
Gemälde: Oliva, Viktor. Der Absinthtrinker. 1901
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#1 - Martin Rath 2018-04-02 08:54 -
Der Link zur Diss. ist gewandert zu: http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/10106/
#1.1 - JL said:
2018-04-02 10:35 -
Herzlichen Dank für den Hinweis.
Eventuell lag es auch daran, dass die verschlüsselte Verbindung von der UB nicht (mehr?) aufgelöst wurde. Ich habe das "s" im Link oben entfernt.
Das PDF ist auch direkt von meiner Homepage aufrufbar:
https://academia.rainlights.net/Verlorene_Arkadien.pdf