Saturday, September 7. 2019
Re: Grandiositäten und Fallen
Der Schriftsteller und freie Journalist Sören Heim hat sich nicht zum ersten Mal die Mühe gemacht, einem meiner Bücher eine eingehende Besprechung zu widmen, über die ich mich wie immer sehr gefreut habe. Sie bringt mich dazu, meinen Text mit literaturwissenschaftlicher Brille zu hinterfragen, und das macht mir als jemandem, der sich lange nicht entscheiden konnte, was er eigentlich sein will -- Textproduzent oder -rezipient -- großen Spaß. So viel in diesem Fall, dass ich etwas mehr Platz als üblich für die Antwort brauchte und sie hier gewissermaßen als Dialog unserer beider Blogs stehen lasse.
Vielen Dank für die Besprechung, die wie immer ziemlich genau das abbildet, worum es mir bei dem Text ging und ihn mancherorts vielleicht sogar zu wohlwollend deutet. Und auch für die Gelegenheit, diesem wissenschaftlich fragwürdigen Impuls einer Replik nachgeben zu können.
Vorweg zur Frage der Einordnung und des Zielpublikums: Tatsächlich glaube ich, dass die Hobbit Presse als Hort der literarisch ambitionierteren Fantasy in Deutschland die einzige mir mögliche Anlaufstelle war. Gleichwohl zeigen sich hier die Grenzen unserer Verlagswelt: Selbst wenn ich es wollte, sehe ich als "Fantasyautor" wenig Chancen, zu einem Highbrow-Verlag zu wechseln. Und die Hogarth-Kollektion wird mir wie der Rest des englischsprachigen Marktes wohl immer verschlossen bleiben. Von daher bewerben wir das Buch nicht einmal allzu laut mit Shakespeare, aber den Bezug zu verschweigen, wäre natürlich mehr als albern gewesen.
Dass ich zu viel (aber nicht jeder!) Subtilität gegenüber inzwischen misstrauischer bin als ich es einmal war, ist richtig. Teils, weil sie nicht immer honoriert wurde, teils, weil das oft auch hieß, dass ich sie nicht richtig eingesetzt habe. Das heißt nicht, dass die Subtilitäten nicht immer noch unter der Oberfläche lauern, aber ich lasse den Leser nicht mehr so gerne auf gut Glück über einen textuellen Maulwurfacker wandern. Das zweite Zitat ist ein gutes Beispiel für solche Leitplankensätze, die wohl nicht unbedingt nötig wären, die ich aber vorsichtshalber dennoch einschlage.
Das erste Zitat hingegen ist ein sehr gutes Beispiel für auktoriales Versagen oder die Grenzen subtiler Signale überhaupt, denn der Satz war weder subtil noch als Signal gemeint, sondern nichts als die schnöde Beschreibung von magischem Gewirbel in einer Schenke. Natürlich ist Deine Interpretation trotzdem valide. Obendrein ist sie passend und schmeichelhaft. Aber es stellt sich die spannende Frage: Hast Du sie als Leser nun selbst in den Text hineingetragen (weswegen Du sie vielleicht auch als zu offensichtlich empfindest) oder war ich so tief in den Stoff abgetaucht, dass ich unbewusst eine Allegorie als ganz unmetaphorische Beschreibung vergeudete (und dadurch zu offensichtlich machte)?
Was die beschnittene Vielschichtigkeit des Originals angeht, so sehe ich den Text schlicht als eine von vielen möglichen Adaptionen. Seine Genese lag ja in der Bühnenproduktion eines Freundes -- in diesem Tempest ging es vor allem um Machtstrukturen und deren Inversion; auch dass Prospero am Ende zugunsten Calibans abdankt, stammt nicht von mir, sondern von Jonas Hock. Mir waren vor allem die Motive von Vergebung und Selbstaufgabe wichtig: der eigenen Eitelkeit zu entsagen und ein Opfer zu bringen. Und genau so bleibt auch bei jeder Adaption etwas auf der Strecke. Will sagen: Shakespeares Können liegt, wie Du ja richtig schreibst, darin, dass sein Werk diese Vielzahl an Lesarten hergibt. Mit jeder, die man sich herauspickt, um sie zu betonen, verliert man dafür ein paar andere.
Zur Theaterlogik: Diese "Grandezza" auf Prosa zu übertragen, war tatsächlich sehr schwierig: aus Bösen werden Gute, aus Feinden Verbündete, aus Fremden Verliebte, und das alles in atemberaubendem Tempo. Ein guter Schauspieler muss in der Lage sein, diese Wandlungen glaubhaft zu präsentieren. Ich stellte fest, dass man als Autor vor demselben Problem steht – denn auf einmal muss man dem Leser erklären (oder bewusst darauf verzichten), was er als Zuschauer einfach sieht.
Und auch mein zweites großes Problem hast Du zielsicher erkannt: die suspension of disbelief. Ich gestehe, ich bin immer noch unsicher, weshalb mir diese Übung dieses Mal so schwer fiel. Teils wohl, weil ich keine zu weite ("es gibt nun mal Geister, Zauberkräfte usw.") aber auch keine zu enge ("alles ist Ariel") Erklärung für die Existenz von Magie wollte. Auch Shakespeare fuhr mehrgleisig, zog einerseits Prosperos Bücher und andererseits Ariel (und zu Teilen Sycorax) als Quell oder Agenten des Überweltlichen heran, dazu diverse Naturgeister. Dies alles passte noch halbwegs ins Weltbild des frühen 17. Jahrhunderts, aber nicht mehr in unser heutiges. Ich wollte keine fiktionale Welt beschreiben, in der solche Dinge zum geheimen "Alltag" gehören (wie es meistens in der urban fantasy der Fall ist). Aber ich wollte auch keine singuläre Ursache, die im Konflikt zum ganzen Rest der Welt steht. So entstand die Welt unter dem Winde aus dem singulären Aufeinandertreffen von Technik, Esoterik und Wahn, um wenigstens auf dieser Ebene den größtmöglichen Deutungsspielraum zu bewahren.
Zu den Nachträgen:
1) Danke für die fundierte Verteidigung meiner vielleicht etwas rehäugigen liberal fantasy, die mir aus tagespolitischen Gründen sehr wichtig war.
2) Ross Perrault ist ein klangvoller Name und ein Wortspiel zweifelhafter Güte, nicht mehr. Tatsächlich verdrängte ich die Existenz von Ross Perot während des ganzen Schreibprozesses derart erfolgreich, dass ich mich weigerte, von dem gefundenen Namen noch einmal abzurücken, als sein real-weltliches Beinahe-Homophon mir wieder bewusst gemacht wurde.
3) Keines von beidem, sondern schlicht die naive Sehnsucht nach Verbildlichung des Schauplatzes, mit der viele Textschaffende gerade in der Fantasy zu kämpfen haben ... zumal die Verlockung, eng mit dem mir freundschaftlich verbundenen Künstler zusammenzuarbeiten, zu groß war (glaub mir: die Liste von mit lieblosen Verlagskarten gestraften Kollegen ist lang). Wobei sich die satirische Dimension der Zusammenarbeit nicht leugnen lässt: Einer der ersten Hinweise, den ich Thilo Corzilius gab, war, dass Maßstäbe und Entfernungen bei dieser Karte keine Rolle spielen ...
Ich hoffe, damit Licht auf einige dunkle Seiten meines Unvermögens geworfen zu haben und danke noch einmal für den erfreulichen Austausch!
Richtigstellung
Da die Gazette nur noch unzureichend ihrem ehemaligen Auftrag nachkommt, über Neuigkeiten aus der Welt der Schönen Künste™ zu berichten (sonst hätte es wohl einen Hinweis auf die jüngste Veröffentlichung zur Linken gegeben), wurde stattdessen ein Newsletter ins Leben gerufen, der diese Aufgabe hoffentlich besser erfüllen wird. Alle Leser sind herzlich eingeladen, ihn zu abonnieren, damit die Redaktion sich wieder themenfremden Zerstreuungen widmen kann.
Saturday, March 3. 2018
Walking Sims
Ich und Videospiele: kurze Verortung
In meiner Jugend habe ich viele Adventures, wie man sie damals nannte, gespielt: King's Quest, Space Quest und überhaupt so ziemlich alles von den frühen Sierra On-Line. An diesen Spielen schätzte ich vor allem die Größe der Welten und Freiheit der Aktionsmöglichkeiten. Nachdem ich fünfzehn Jahre später meinen Atari ST gegen einen PC eintauschte, machte ich meine ersten Erfahrungen mit Ego-Shootern wie Unreal oder Deus Ex. Ich bin kein großer Freund von Gewalt in Videospielen, aber dreidimensionale Welten aus der Ichperspektive zu erleben war eine faszinierend neue Erfahrung. Dann spielte ich weitere fünfzehn Jahre lang praktisch gar nicht mehr, weil ich weder die Zeit noch das Geld dazu hatte.
Der Grund, weshalb ich mir letztlich doch wieder einen spielefähigen Rechner kaufte, war Bioshock Infinite, und dieses Spiel wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Es erzählt eine der fesselndsten Parallelweltgeschichten, die ich kenne, und seine Hauptfiguren Elizabeth und Booker berührten mich auf eine Weise, die ich nie zuvor in Spielen erlebt hatte. Dass diese Geschichte in Form eines Shooters erzählt wurde, war für mich dabei zweitrangig.
Eine Nachwirkung dieser Erfahrung war, dass ich recht schnell auf die Suche nach Spielen geriet, die mir eine ähnliche emotionale Erfahrung minus die Action boten. Denn das war's, was ich eigentlich wollte: Eine Welt betreten und ihre Bewohner kennenlernen. Nicht, gegen sie kämpfen zu müssen. Eine immersive Erfahrung wie bei einem Shooter – nur ohne das Schießen. Viele Gegner und Kämpfe stressen mich zu sehr; dasselbe gilt leider für ausgemachte Horrorspiele, gleich, was sie sonst für Qualitäten aufweisen.
Bald darauf fand ich heraus, dass man solche Spiele seit Dear Esther (2012) oft als "Walking Simulators" bezeichnet. Der Begriff wurde zunächst abwertend von jenen Gamern gebraucht, die für sich herausnehmen, zu entscheiden, was ein "echtes" (oft gleichbedeutend mit: kompetitives, militärisch angehauchtes, technisch perfektioniertes) Spiel ist und was nicht; bald wurde der Terminus von den Freunden solcher Spiele aber aufgegriffen und wird heute mehr oder weniger ironisch als Selbstbezeichnung verwendet – wohl auch, damit man nicht immer von "narrative driven, first-person adventure exploration video games" reden muss. Die meisten Walking Sims stammen von kleinen, experimentierfreudigen Studios und bemühen sich gezielt um die Inklusion neuer Themen und Käufer. Dank der tiefen Gräben in der amerikanische Gesellschaft und der oft groben Diskussionskultur in Spieleforen ist "Walking Simulator" auch ein überraschend politischer Begriff.
Natürlich gehen die Meinungen, was einen Walking Sim nun ausmacht, auseinander. Im Extremfall sind es Spiele, in denen man wirklich nur läuft – aber diese reine Lehre trifft man selten und wäre auch mir zu wenig. Häufig ist man in diesen Spielen recht einsam (was wohl auch eine Frage der Ressourcen ihrer Studios ist), und auch das ist schade. Im Vordergrund steht meist die Geschichte, die sich mehr oder weniger linear entspinnt, je weiter man in diesen Spielen vordringt: "most lack puzzles or any sort of barrier to experiencing the narrative, with the exception of finding objects. You cannot fail a task in a way that forces you to repeat it, and you cannot die." (Salon: "A brief history of the “walking simulator,” gaming’s most detested genre).
Man könnte sagen, der Walking Simulator ist die natürliche Form einer interaktiven Erzählung; weniger ein Videospiel-Genre als die Default-Entsprechung eines Romans oder Films, die vom Standpunkt der Spieltheorie tatsächlich nicht "Spiel" im Sinne eines Wettkampfs oder Glücksspiels, sondern eher im Sinne eines Theaterstücks ist. Ich spiele diese Spiele nicht, um zu gewinnen oder um Puzzles zu lösen, sondern weil mich die Figuren interessieren und mir das Medium die Möglichkeit gibt, an ihrer Geschichte, ihrem Leben teilzuhaben.
Die nachfolgende Aufstellung ist eine eklektisch sortierte Auswahl artverwandter Spiele, die mich im Laufe des letzten Jahres mehr oder minder begeistert haben.
Eine Top 10, die keine ist
Ausblick
Die Liste der Spiele, die ich noch vor mir habe, ist lang: The Fidelio Incident, Leaving Lyndow, Kona, Virginia, Adr1ft, event [0], The Painscreek Killings, Blackwood Crossing, The Old City: Leviathan. Noch kann ich nichts zu ihnen sagen, außer, dass sie für meinen Geschmack interessant sein könnten. Vielleicht liege ich bei einigen auch völlig falsch. Auf folgende drei Spiele mit noch unbekanntem Erscheinungsdatum freue ich mich aber jetzt schon:
In meiner Jugend habe ich viele Adventures, wie man sie damals nannte, gespielt: King's Quest, Space Quest und überhaupt so ziemlich alles von den frühen Sierra On-Line. An diesen Spielen schätzte ich vor allem die Größe der Welten und Freiheit der Aktionsmöglichkeiten. Nachdem ich fünfzehn Jahre später meinen Atari ST gegen einen PC eintauschte, machte ich meine ersten Erfahrungen mit Ego-Shootern wie Unreal oder Deus Ex. Ich bin kein großer Freund von Gewalt in Videospielen, aber dreidimensionale Welten aus der Ichperspektive zu erleben war eine faszinierend neue Erfahrung. Dann spielte ich weitere fünfzehn Jahre lang praktisch gar nicht mehr, weil ich weder die Zeit noch das Geld dazu hatte.
Der Grund, weshalb ich mir letztlich doch wieder einen spielefähigen Rechner kaufte, war Bioshock Infinite, und dieses Spiel wird immer einen besonderen Platz in meinem Herzen haben. Es erzählt eine der fesselndsten Parallelweltgeschichten, die ich kenne, und seine Hauptfiguren Elizabeth und Booker berührten mich auf eine Weise, die ich nie zuvor in Spielen erlebt hatte. Dass diese Geschichte in Form eines Shooters erzählt wurde, war für mich dabei zweitrangig.
Eine Nachwirkung dieser Erfahrung war, dass ich recht schnell auf die Suche nach Spielen geriet, die mir eine ähnliche emotionale Erfahrung minus die Action boten. Denn das war's, was ich eigentlich wollte: Eine Welt betreten und ihre Bewohner kennenlernen. Nicht, gegen sie kämpfen zu müssen. Eine immersive Erfahrung wie bei einem Shooter – nur ohne das Schießen. Viele Gegner und Kämpfe stressen mich zu sehr; dasselbe gilt leider für ausgemachte Horrorspiele, gleich, was sie sonst für Qualitäten aufweisen.
Bald darauf fand ich heraus, dass man solche Spiele seit Dear Esther (2012) oft als "Walking Simulators" bezeichnet. Der Begriff wurde zunächst abwertend von jenen Gamern gebraucht, die für sich herausnehmen, zu entscheiden, was ein "echtes" (oft gleichbedeutend mit: kompetitives, militärisch angehauchtes, technisch perfektioniertes) Spiel ist und was nicht; bald wurde der Terminus von den Freunden solcher Spiele aber aufgegriffen und wird heute mehr oder weniger ironisch als Selbstbezeichnung verwendet – wohl auch, damit man nicht immer von "narrative driven, first-person adventure exploration video games" reden muss. Die meisten Walking Sims stammen von kleinen, experimentierfreudigen Studios und bemühen sich gezielt um die Inklusion neuer Themen und Käufer. Dank der tiefen Gräben in der amerikanische Gesellschaft und der oft groben Diskussionskultur in Spieleforen ist "Walking Simulator" auch ein überraschend politischer Begriff.
Natürlich gehen die Meinungen, was einen Walking Sim nun ausmacht, auseinander. Im Extremfall sind es Spiele, in denen man wirklich nur läuft – aber diese reine Lehre trifft man selten und wäre auch mir zu wenig. Häufig ist man in diesen Spielen recht einsam (was wohl auch eine Frage der Ressourcen ihrer Studios ist), und auch das ist schade. Im Vordergrund steht meist die Geschichte, die sich mehr oder weniger linear entspinnt, je weiter man in diesen Spielen vordringt: "most lack puzzles or any sort of barrier to experiencing the narrative, with the exception of finding objects. You cannot fail a task in a way that forces you to repeat it, and you cannot die." (Salon: "A brief history of the “walking simulator,” gaming’s most detested genre).
Man könnte sagen, der Walking Simulator ist die natürliche Form einer interaktiven Erzählung; weniger ein Videospiel-Genre als die Default-Entsprechung eines Romans oder Films, die vom Standpunkt der Spieltheorie tatsächlich nicht "Spiel" im Sinne eines Wettkampfs oder Glücksspiels, sondern eher im Sinne eines Theaterstücks ist. Ich spiele diese Spiele nicht, um zu gewinnen oder um Puzzles zu lösen, sondern weil mich die Figuren interessieren und mir das Medium die Möglichkeit gibt, an ihrer Geschichte, ihrem Leben teilzuhaben.
Die nachfolgende Aufstellung ist eine eklektisch sortierte Auswahl artverwandter Spiele, die mich im Laufe des letzten Jahres mehr oder minder begeistert haben.
Eine Top 10, die keine ist
- LIFE IS STRANGE (Dontnod Entertainment, 2015): Max Caulfield kehrt in ihren Heimatort zurück. Als sie eine Gewalttat an ihrer Schule verhindern will, entdeckt sie, dass die Gabe hat, die Zeit zurückzudrehen. Kurz darauf trifft sie ihre alte Freundin Chloe wieder.
Der "Teenage-Girl-Simulator" Life is Strange findet sich vor allem deshalb in dieser Aufstellung, weil er inzwischen mein Lieblingsspiel ist. Ob er wirklich ein Walking Sim ist, sei dahingestellt; es ist das einzige Spiel auf dieser Liste, das nicht die Egoperspektive, sondern eine Spielfigur benutzt. Max' Gabe der Zeitmanipulation ist eine komplexe Spielmechanik, mit der man auch viel falsch machen kann; gleichzeitig verlässt sich das Spiel stark auf Zwischensequenzen, ist stellenweise also eher ein interaktiver Film mit Auswahlmenüs. Was das Spiel enorm gut schafft, ist die emotionale Bindung an die Figuren. Arcadia Bay hat viele Bewohner, alle wachsen sie einem ans Herz, und insbesondere Chloe ist für die Spielerfahrung ähnlich zentral wie die oben erwähnte Elizabeth. Das Spiel, das ästhetisch und inhaltlich irgendwo zwischen Donnie Darko, Twin Peaks und The Perks of Being a Wallflower changiert, lässt einem mit einem ähnlichen Gefühl wie eine gut besetzte HBO-Serie zurück – und das ist außergewöhnlich angesichts so vieler Spiele, die aus Detektivarbeit in leeren Welten bestehen. 5/5 - LIFE IS STRANGE: BEFORE THE STORM (Deck Nine, 2017): In den Jahren vor Max' Rückkehr gerät Chloe in den Bann der aufregenden Rachel Amber und ihrer Geheimnisse.
Die nachgeschobene Vorgeschichte zu Life is Strange, in der Chloe die Hauptrolle innehat, braucht sich hinter dem ersten Spiel nicht zu verstecken. Da Chloe im Gegensatz zu Max auch keine übernatürlichen Fähigkeiten besitzt, ist die Erfahrung sogar noch etwas "realistischer", das pubertäre Drama und die "Feelz" noch hochgejazzter. Ausgestattet mit dem Wissen des Vorgängers, ergibt sich eine außerordentlich dichte Welt, die zugleich bedrohlich-düster wie anheimelnd und im besten Sinne jugendlich ist. 5/5 - THE VANISHING OF ETHAN CARTER (The Astronauts, 2014): Der übersinnlich begabte Ermittler Paul Prospero erkundet ein abgelegenes Tal in der Wildnis, um das Verschwinden eines kleinen Jungen aufzuklären.
A propos Detektivarbeit in leeren Welten: Das ist genau, was man hier tut. Einzelne Schauplätze – Friedhöfe, Bergwerke, verfallene Häuser – halten verschiedene Puzzles und Minigames bereit; das Spiel bleibt abwechslungsreich, hat eine extrem schöne Grafik, eine flüssige Steuerung und eine schwermütige, teils Lovecraft-inspirierte Stimmung. Das Einzige, was mir missfiel, war, dass zum Ende – das mich an sich begeistert hat – das wenige, das man über Prospero zu wissen glaubt, en passent umdefiniert wird; eine Art von Twist (wer bin ich eigentlich und was tue ich hier?), die in Videospielen leider viel zu häufig angewendet wird und in Buch und Film nicht funktionieren würde (ich bin ehrlich gesagt nicht sicher, ob sie überhaupt funktioniert). Bis auf ein paar Brüche ein hervorragendes Spiel, bemerkenswerterweise von einem Entwickler, den man aufgrund seiner öffentlichen Einlassungen eher auf Seiten derer vermuten würde, welche Walking Sims als Ausgeburten der links-liberal feministischen Weltverschwörung sehen. 4/5 - GONE HOME (The Fullbright Company, 2013): Katie kommt zu früh auf Besuch und verliert sich in den Erinnerungen ihres leeren Elternhauses.
Was uns eigentlich direkt zu Gone Home bringt, denn hier nimmt vieles, was den Gegnern solcher Spiele verhasst ist, seinen Anfang: kein "echtes" Spiel, nur Charakterstory, und dann auch noch eine lesbische Liebesgeschichte. Im Kontext der Gamergate-Kontroverse wurde Gone Home eins der am häufigsten zitierten Spiele, die nach Meinung antifeministischer Stimmungsmacher zu viel ungerechtfertigtes Lob in den Medien erfuhren.
Als jemand, der das Spiel erst vier Jahre später entdeckte, freute ich mich vor allem über die gefällige Steuerung (ironischerweise leider eine Seltenheit in Walking Sims) und die schöne Atmosphäre, die gelegentlich eine Spukgeschichte anteasert, ohne je eine zu werden. Der thematische und handwerkliche Einfluss auf spätere Spiele ist offensichtlich, aber insgesamt blieb mein Eindruck hinter den Erwartungen zurück; so ähnlich, wie wenn man sich die Band anhört, die von der Lieblingsband immer als Vorbild genannt wird, der Funke aber nicht ganz überspringt.
Das Haus, das man erkundet, ist voll mit irrelevanten Objekten; die unchronologische Stöberei stört den narrativen Fluss, weil kein richtiger Spannungsbogen entsteht; und die Wahl einer (fast) stillen Protagonistin ist meines Erachtens ein Fehler, weil man sich häufig eine emotionale Reaktion Katies zu den aufgedeckten Familiengeheimnissen wünscht, aber in die stumme Beobachterrolle verbannt bleibt. 3/5 - TACOMA (Fullbright, 2017): Die Besatzung der namensgebenden Raumstation ist verunglückt. Amy wird an Bord geschickt, um wichtige Daten zu bergen.
Der Nachfolger zu Gone Home hat eigentlich eine tolle Prämisse (genau dasselbe – nur im Weltraum!), funktioniert meines Erachtens aber leider noch schlechter. Der Aufbau des Spiels ist deutlich linearer, gibt einem aber keinen echten Grund, sich überhaupt für die Lebensgeschichte der Stationsbewohner zu interessieren – außer, dass man gezwungen ist, einen festen Zeitraum in jedem Abschnitt zu verbringen. Also schaut man sich entweder an Bord um oder man lässt das Spiel einfach laufen und geht einen Kaffee kochen – gute Spielermotivation sieht anders aus. Am Ende gibt es einen kleinen Twist, der den Abschluss etwas netter macht, aber wiederum nur funktioniert, weil das Spiel einem bis dahin zentrale Informationen über die passive Hauptfigur vorenthielt. Für mich das schwächste Spiel auf dieser Liste, vor allem erwähnenswert in seiner Eigenschaft als "Floating Sim" in den schwerelosen Bereichen. 2/5 - DEAR ESTHER (The Chinese Room, 2012): Eine psychedelische Wanderung über eine Insel und durch das Unterbewusste.
Dear Esther – oh dear indeed. Dies ist das Spiel, das man als Erstes in Ermangelung eines besseren Begriffs als "Walking Sim" bezeichnete, und ich mochte es auch – aber eigentlich ist es eine Katastrophe. Das Äquivalent zu einem Darren-Aronofsky-Film, erzählt in freien Versen von einem Achtzehnjährigen im Rollkragenpulli. Grafik: Wunderschön, man kann das Wetter auf den Hebriden förmlich spüren. Der Soundtrack von Komponistin Jessica Curry: schlicht grandios. Die Bewegung: als hätte die Spielfigur beide Beine in Gips, jedes Brett auf dem Boden ein unüberwindliches Hindernis. Aktionsmöglichkeiten: keine, man stakst voran und lauscht der Erzählung. Die Geschichte: eine prätentiöse Aneinanderreihung dramatischer Zeilen voll leerer Metaphern und bewusster Widersprüche, die aus dem Versuch entstanden, verschiedenen Fantheorien Rechnung zu tragen. Ergebnis ist eine wilde, nicht auflösbare Assoziationskette über Schuld und Verdrängung: vier Figuren, die teilweise irgendwie dieselbe sind; eine Frau, die bei einem Autounfall starb; die Vergangenheit, die einem folgt, wohin man auch flieht. Wenn man das Ganze als eine Art elegischen Bewusstseinsstrom akzeptiert, hat es eine tolle Atmosphäre, man sollte bloß keine Erklärung erwarten. 3/5 - EVERYBODY'S GONE TO THE RAPTURE (The Chinese Room, 2015): Alle sind fort. Aber ist das schlimm? Traurig? Oder finden wir endlich unseren Frieden ...?
Der Nachfolger zu Dear Esther macht manches besser und vieles mit Inbrunst genau wie zuvor. Die preisgekrönte Musik, die Grafik, die tiefe Melancholie machen das Spiel zu einer fast spirituellen Erfahrung; die Geschichte, obgleich bewusst mysteriös und vage, ergibt diesmal gefühlten Sinn; die Bewegung durch die Welt jedoch ist immer noch ermüdend, die "Laufen"-Taste ein Witz und die einzige Spielmechanik (das Aktivieren der Flashbacksequenzen) so arbiträr, dass man sie in den Einstellungen auch gleich abschalten kann.
Wieder erforscht man eine verlassene Landschaft, ein idyllisches englisches Dorf, dessen Bewohner unter geheimnisvollen Umständen verschwanden. Wie bei Tacoma erschließt sich die Geschichte über Flashbacks, die von leuchtenden Silhouetten nachgespielt werden. Das Hauptproblem hierbei ist wie so oft, dass man währenddessen zum passiven Zuschauer verdammt wird; und leider legt einem die Steuerung so viele Steine in den Weg, dass man unwillig ist, die Welt mit dem nötigen Elan zu erforschen. Mehr als einmal entdeckte ich den Ankerpunkt einer weiteren Flashback-Sequenz in der Ferne – aber im Schneckentempo eine weitere Wiese zu überwinden, nur um als Belohnung zwei Minuten lang einem Streit zwischen gesichtslosen Nebenfiguren zu lauschen, schien mir die Mühe nicht wert. Das Bedauern über das Verpasste war nicht halb so groß wie das über die verschenkten Möglichkeiten eines fantastischen Szenarios, das ich gerne mehr geliebt hätte.
Gerade Spiele, die auf Neugierde und Forscherdrang des Spielers angewiesen sind, sollten die Erkundung der Welt so einfach und lohnenswert wie möglich machen – stattdessen legt The Chinese Room dem Spieler – aus Angst, die Kontrolle über das fragile Zusammenspiel aus Geschichte, Schauplatz und Musik abzugeben – erneut ein Korsett an. 3/5 - WHAT REMAINS OF EDITH FINCH (Giant Sparrow, 2017): Die junge Edith kehrt in das surreale Haus ihrer Kindheit zurück, um sich und ihrem ungeborenen Kind die eigene Familiengeschichte zu erschließen.
What Remains of Edith Finch ist in jeder Hinsicht ein Kunstprodukt; die postmoderne Rokoko-Version von Gone Home und ähnlichen Spielen. Wieder erforscht man ein leeres Haus, wieder spürt man der Geschichte der eigenen Familie nach. Diesmal aber birgt jeder Raum ein eigenes Minispiel, und jedes Spiel ist sein eigenes Genre, das häufig die Grenzen des Mediums verwischt und bricht. Das Spiel wird zum Comic, der Comic zum Film; Untertitel werden zum Spielobjekt, und die Ebenen verschachteln sich wie Matrjoschka-Puppen. Edith hat (im Gegensatz zu Katie aus Gone Home) eine Stimme und eine Persönlichkeit, und man lernt jedes Familienmitglied im Lauf des kurzen Spiels kennen und lieben; trotz der formalen Spielereien ist die Geschichte enorm feinfühlig, die Welt von einem magischen Realismus und einem schwarzen, aber niemals menschenfeindlichen Humor beseelt. Das Ende rührt einen auch nach nur vier Stunden Spielzeit zu Tränen. Das einzige Manko waren die wie so oft unzureichenden Interaktions- und Bewegungsmöglichkeiten. Die Fortbewegung im Haus ist mühsam, nichts außerhalb der Minispiele von Bedeutung. Hätte man Rahmenhandlung und Setting ebenso liebevoll gestaltet wie die Geschichten-in-der-Geschichte, wäre es für mich ein Meisterwerk. 5/5 - FIREWATCH (Campo Santo, 2016): Ein beschaulicher Sommer in einem Feuerwachturm in Wyoming führt Tag für Tag tiefer in eine hausgemachte Katastrophe.
Firewatch ist das beste Spiel auf dieser Liste. Punkt. Life is Strange liebe ich vielleicht noch inniger, aber insbesondere für einen "Walking Sim" ist Firewatch das bessere Spiel. Man merkt den Entwicklern die Erfahrung an, die sie bei Gone Home gesammelt haben (die Mechanik, mit der man Gegenstände aufnimmt und wieder zurücklegt, ist dieselbe wie in den Fullbright-Spielen). Man kann sich frei und angemessen schnell bewegen, man klettert und kriecht, kurz, man fühlt sich körperlich als Teil dieser Welt und nicht nur als Tourist auf Schienenschleichfahrt. Ein echtes Inventar gibt es zwar nicht, aber das Aufnehmen und Untersuchen von Gegenständen wird belohnt, denn man kann verschiedenste Objekte (Kleidung, Ausrüstung, Andenken) auch mitnehmen.
Das Wichtigste aber – und was Firewatch von allen Spielen außer Life is Strange auf dieser Liste unterscheidet – ist, dass beide Protagonisten echte, runde, handelnde Charaktere sind, keine leeren Projektionsflächen oder Erinnerungen. Und obwohl es nur zwei sind, ist ihre Beziehung enorm komplex: Henry jobbt als Feuerwächter im Nationalpark, weil sein Leben zuhause (seine Frau lebt demenzkrank in einem Heim) ihn überfordert. Und auch Delilah, seine Kollegin im Ausguck auf dem nächsten Berg, hat ihre Baustellen; jeder in diesem Spiel scheint auf der Flucht vor sich selbst zu sein. Dem Spiel gelingt das Kunststück, dass man sich niemals einsam fühlt, während man durch die Wildnis streift, der einzige menschliche Kontakt Delilahs Stimme am Funkgerät. Die Dialoge und das Voice Acting setzen einen neuen Standard für Spiele, und die Geschichte, die zwischen Hemingway und Hitchcock in immer paranoidere Gefilde abgleitet, während ein außer Kontrolle geratener Waldbrand die Spielwelt bedroht, schafft es, stets mehr über die Figuren zu transportieren, als ausgesprochen wird – gelegentlich mehr, als ihnen selbst bewusst ist. Tatsächlich gibt es für fast jedes Rätsel eine Erklärung, bloß sind diese teilweise etwas zu gut versteckt und nur an bestimmten Tagen der Spielhandlung auffindbar. Und während Spiele wie Gone Home oder sogar Edith Finch jedes Mal die gleiche Erfahrung bieten, schafft es Firewatch mittels tausend kleiner Variationen – von der Wahl der passenden Dialogzeile bis zur Wahl der passenden Baseballmütze – jeden Durchgang zu einem persönlichen Erlebnis zu machen. 5/5 - Honorable Mention: PHONING HOME (Ion Lands, 2017): Zwei Roboter erkunden einen exotischen Planeten auf der Suche nach Rohstoffen für die Heimkehr.
Phoning Home ist eigentlich kein Walking Sim, wird aber gelegentlich als einer diskreditiert und qualifiziert sich damit für diese Liste. Tatsächlich verbringt man viel Zeit damit, als Roboter ION (der stark an WALL-E erinnert) die große und wunderschöne Spielwelt zu erkunden; das Spiel bedient sich jedoch auch zahlreicher Puzzle-, Survival- und Escort-Mission-Elemente. Meine Sorge um die kleine ANI (sie rostet immer so schlimm!) nahm bald schon obsessive Züge an, und diese Form von Bindung ist für mich ein Plus. Wer gerne auch mal springt und etwas ballert (ein bisschen Portal-Erfahrung schadet ebenfalls nicht), der wird mit diesem Spiel seine Freude haben. Und solange es nicht regnet, kann man mit ANI Blumen pflücken und sich ihre fiepsigen Spinnereien anhören. 4/5
Ausblick
Die Liste der Spiele, die ich noch vor mir habe, ist lang: The Fidelio Incident, Leaving Lyndow, Kona, Virginia, Adr1ft, event [0], The Painscreek Killings, Blackwood Crossing, The Old City: Leviathan. Noch kann ich nichts zu ihnen sagen, außer, dass sie für meinen Geschmack interessant sein könnten. Vielleicht liege ich bei einigen auch völlig falsch. Auf folgende drei Spiele mit noch unbekanntem Erscheinungsdatum freue ich mich aber jetzt schon:
- In The Valley of Gods, das nächste Spiel von Campo Santo: Weil sie für mich bewiesen haben, dass sie dieses junge Form interaktiver, stimmungsvoller Geschichten am besten beherrschen. Firewatch bot mir die richtige Mischung aus freier Entfaltung und dramaturgischer Konzeption, und ich bin sehr gespannt, was mich in Ägypten erwartet.
- Life is Strange Season 2, diesmal wieder von Dontnod: Hier wird es schwieriger, an die Vorgänger anzuknüpfen, denn diesmal werden es neue Figuren, ein neuer Schauplatz und eine neue Geschichte sein, und die riesige Fangemeinde ist sehr uneins, was genau den Charakter von Life is Stange eigentlich ausmacht: übernatürliche Fähigkeiten? Lebensverändernde Entscheidungen? Gleichgeschlechtliche Liebe? Nur bei Star Wars kann man mehr falsch machen – aber ich bin guter Dinge, dass die Autoren mich nicht enttäuschen.
- Das erste Spiel von Ghost Story Games, der neuen Firma von Ken Levine (Bioshock). Das wird mit Sicherheit kein Walking Simulator – aber garantiert eine erlebenswerte Geschichte.
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Wednesday, December 20. 2017
Karten vom Ende der Welt
Aus Zeitgründen schaffe ich es nicht, zu "Marco Polo" eine vergleichbare Subdomain wie zu meinen übrigen Romanen einzurichten. Anlässlich des kürzlich erschienenen Taschenbuchs und der Auszeichnung mit dem Homer-Literaturpreis 2017 wollte ich vor Jahresende aber noch ein paar Karten teilen, die ich teils für den Eigenbedarf, teils als Vorlagen für den Verlag anfertigte, die im Druck aber keine Verwendung fanden.
Die erste und wichtigste Karte, in die ich auch am meisten Arbeit investierte, ist diese Weltkarte, die unter Zuhilfenahme von Scribble Maps entstand. Die Windrose schuf Karin Graf (für "Das Licht hinter den Wolken").
Die Route orientiert sich maßgeblich an Leonardo Olschkis Marco Polo’s Asia: An Introduction to his »Description of the World« called »Il Milione« (Berkeley: University of California Press, 1960). Nachfolgend dazu das Verzeichnis der Ortsnamen, wie man es auch im Roman findet: links die historische (oder historisierende) Bezeichnung, rechts der heutige Namen (ich verlinke wo möglich auf die deutsche Wikipedia; häufig sind die korrespondierenden englischen Artikel aber hilfreicher). Orte in Klammern existieren (in dieser Form) heute nicht mehr.
Die für mich bemerkenswertenswertesen Erkenntnisse bei der Recherche des Reisewegs waren: 1. Die sogenannte Seidenstraße (die damals noch nicht so hieß) führte durch die wahrscheinlich lebensfeindlichsten Gegenden, die man auf dem eurasischen Kontinent findet. 2. Praktisch alles östlich von Konstantinopel und Jerusalem wurde von den Mongolen beherrscht. 3. Waren, Wissen oder zumindest Gerüchte fanden dank der "Pax Mongolica" und unerschrockener Händler ihren Weg vom Atlantik bis zum Pazifik, von Madagaskar bis nach Sibirien. 4. Europäer verstanden damals eine Menge vom Rudern (die venezianische Galeerenproduktion war enorm), aber wenn man auf dem Seeweg bis nach China wollte, fragte man besser einen Chinesen — sofern man das Glück hatte, in Persien eine Dschunke zu kriegen. 5. Marco Polo wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass die Erde eine Kugel war (und war damit auch nicht allein — es interessierte nur niemanden, weil man nicht glaubte, dass auf der Unterseite jemand lebt: schließlich ist es da heiß und man fiele hinunter und Jesus könnte dort auch nicht hin und das ginge ja gar nicht). 6. Unsere heutige Weltreligionen sind eine ziemlich dröge Angelegenheit verglichen mit den zahlreichen christlichen, muslimischen, buddhistischen und sonstigen Splittergruppen, die insbesondere in Asien existierten. 7. Die unterschiedlichen Stadtbegriffe waren frappierend. Manche Orte auf dieser Karte waren nicht mehr als ein besseres Heerlager mit einem Tempel in der Mitte. Andere waren Weltstädte; Quinsai besaß rund eine Million Einwohner.
Akkon > Akkon, Israel
Angamanain > Andamanen, Indien
Annam & Champa > Vietnam
Balkh > Balch, Afghanistan
Bukhara > Buchara, Usbekistan
Cambay > Khambhat, Gujarat, Indien
Campichu > Zhangye, Gansu, China
Candia > Iraklio, Kreta
Chorcha > Mandschurei, China
Cipangu > Japan
Coilum > Kollam, Kerala, Indien
Curzola > Korčula, Kroatien
Drachenzahntor > (Long Ya Men, Singapur)
Eli > Payyanur, Kerala, Indien
Fancheng & Saianfu > Xiangyang, Hubei, China
Ferlek > Perlak, Aceh, Indonesien
Herat > Herat, Afghanistan
Hormuz > (Hormus, Iran)
Kaifeng > Kaifeng, Henan, China
Kap von Comari > Kap Komorin
Karakorum > (Karakorum, Mongolei)
Kashgar > Kaxgar, Xinjiang, China
Kauli > Korea
Kerman > Kerman, Iran
Kesmacoran > Makran, Iran/Pakistan
Khanbalik > Peking
Khotan > Hotan, Xinjiang, China
Klein-Java > Sumatra, Indonesien
Kobinan > Kuhbanan, Iran
Konstantinopel (Byzanz) > Istanbul, Türkei
Laias > Yumurtalık, Türkei
Lop > (Wüste Lop Nor)
Madeigascar > Madagaskar
Mien > Myanmar
Modon > Methoni, Peloponnes
Oase am Jadetor > Mondsichelsee; Dunhuang, Gansu, China
Quinsai > Hangzhou, Zhejiang, China
Ragusa > Dubrovnik, Kroatien
Saba > Saveh, Iran
Sabbioncello > Pelješac, Kroatien
Samarkand > Samarkand, Usbekistan
Sapurgan > Scheberghan, Afghanistan
Sarai > (Sarai, Russland)
Scotra > Sokotra, Jemen
Seilan > Sri Lanka
Semenat > Somnath, Gujarat, Indien
Soldaia > Sudak, Krim
Sondur und Condur > Côn Đảo, Vietnam
Tabas > Tabas, Iran
Tabriz > Täbris, Iran
Tana > Thane, Maharashtra, Indien
Tebet > Tibet
Trapezunt > Trabzon, Türkei
Xanadu > (Shangdu, Innere Mongolei, China)
Yazd > Yazd, Iran
Zayton > Quanzhou, Fujian, China
Die Route orientiert sich maßgeblich an Leonardo Olschkis Marco Polo’s Asia: An Introduction to his »Description of the World« called »Il Milione« (Berkeley: University of California Press, 1960). Nachfolgend dazu das Verzeichnis der Ortsnamen, wie man es auch im Roman findet: links die historische (oder historisierende) Bezeichnung, rechts der heutige Namen (ich verlinke wo möglich auf die deutsche Wikipedia; häufig sind die korrespondierenden englischen Artikel aber hilfreicher). Orte in Klammern existieren (in dieser Form) heute nicht mehr.
Die für mich bemerkenswertenswertesen Erkenntnisse bei der Recherche des Reisewegs waren: 1. Die sogenannte Seidenstraße (die damals noch nicht so hieß) führte durch die wahrscheinlich lebensfeindlichsten Gegenden, die man auf dem eurasischen Kontinent findet. 2. Praktisch alles östlich von Konstantinopel und Jerusalem wurde von den Mongolen beherrscht. 3. Waren, Wissen oder zumindest Gerüchte fanden dank der "Pax Mongolica" und unerschrockener Händler ihren Weg vom Atlantik bis zum Pazifik, von Madagaskar bis nach Sibirien. 4. Europäer verstanden damals eine Menge vom Rudern (die venezianische Galeerenproduktion war enorm), aber wenn man auf dem Seeweg bis nach China wollte, fragte man besser einen Chinesen — sofern man das Glück hatte, in Persien eine Dschunke zu kriegen. 5. Marco Polo wusste mit ziemlicher Sicherheit, dass die Erde eine Kugel war (und war damit auch nicht allein — es interessierte nur niemanden, weil man nicht glaubte, dass auf der Unterseite jemand lebt: schließlich ist es da heiß und man fiele hinunter und Jesus könnte dort auch nicht hin und das ginge ja gar nicht). 6. Unsere heutige Weltreligionen sind eine ziemlich dröge Angelegenheit verglichen mit den zahlreichen christlichen, muslimischen, buddhistischen und sonstigen Splittergruppen, die insbesondere in Asien existierten. 7. Die unterschiedlichen Stadtbegriffe waren frappierend. Manche Orte auf dieser Karte waren nicht mehr als ein besseres Heerlager mit einem Tempel in der Mitte. Andere waren Weltstädte; Quinsai besaß rund eine Million Einwohner.
Akkon > Akkon, Israel
Angamanain > Andamanen, Indien
Annam & Champa > Vietnam
Balkh > Balch, Afghanistan
Bukhara > Buchara, Usbekistan
Cambay > Khambhat, Gujarat, Indien
Campichu > Zhangye, Gansu, China
Candia > Iraklio, Kreta
Chorcha > Mandschurei, China
Cipangu > Japan
Coilum > Kollam, Kerala, Indien
Curzola > Korčula, Kroatien
Drachenzahntor > (Long Ya Men, Singapur)
Eli > Payyanur, Kerala, Indien
Fancheng & Saianfu > Xiangyang, Hubei, China
Ferlek > Perlak, Aceh, Indonesien
Herat > Herat, Afghanistan
Hormuz > (Hormus, Iran)
Kaifeng > Kaifeng, Henan, China
Kap von Comari > Kap Komorin
Karakorum > (Karakorum, Mongolei)
Kashgar > Kaxgar, Xinjiang, China
Kauli > Korea
Kerman > Kerman, Iran
Kesmacoran > Makran, Iran/Pakistan
Khanbalik > Peking
Khotan > Hotan, Xinjiang, China
Klein-Java > Sumatra, Indonesien
Kobinan > Kuhbanan, Iran
Konstantinopel (Byzanz) > Istanbul, Türkei
Laias > Yumurtalık, Türkei
Lop > (Wüste Lop Nor)
Madeigascar > Madagaskar
Mien > Myanmar
Modon > Methoni, Peloponnes
Oase am Jadetor > Mondsichelsee; Dunhuang, Gansu, China
Quinsai > Hangzhou, Zhejiang, China
Ragusa > Dubrovnik, Kroatien
Saba > Saveh, Iran
Sabbioncello > Pelješac, Kroatien
Samarkand > Samarkand, Usbekistan
Sapurgan > Scheberghan, Afghanistan
Sarai > (Sarai, Russland)
Scotra > Sokotra, Jemen
Seilan > Sri Lanka
Semenat > Somnath, Gujarat, Indien
Soldaia > Sudak, Krim
Sondur und Condur > Côn Đảo, Vietnam
Tabas > Tabas, Iran
Tabriz > Täbris, Iran
Tana > Thane, Maharashtra, Indien
Tebet > Tibet
Trapezunt > Trabzon, Türkei
Xanadu > (Shangdu, Innere Mongolei, China)
Yazd > Yazd, Iran
Zayton > Quanzhou, Fujian, China
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Friday, July 28. 2017
Was will die Fee?
Was bisher geschah: Alessandra Reß schrieb ein sehr lesenswertes und unterhaltsames Glossar der fantastischen (Sub-)Genres, jemand stellte eine dumme Frage und Lake Hermanstadt gab eine sehr gute Antwort darauf. Ich empfehle diese Artikel zu lesen, ehe man sich auf meine Ideensammlung zum Thema einlässt.
Seit gut fünfzig Jahren meinen Literaturwissenschaftler und Buchhändler komplett verschiedene Dinge, wenn sie von "Phantastik" reden. Erstere denken zunächst an die Literatur der Verunsicherung, wie sie (mehr oder weniger brauchbar) von Caillois, Todorov und anderen beschrieben wurde, letztere sehen darin einen drollig geschriebenen Oberbegriff für Fantasy, Science-Fiction und Horror (also landläufig Elfen, Raumschiffe oder Vampire – die drei großen Embleme, die seit hundert Jahren so ziemlich jeder versteht).
Das ist wie gesagt ein altes Problem, das ich hier auch nicht auflösen kann, denn Literaturwissenschaft interessiert sich nicht für Werbeschubladen (und bedauerlicherweise nur selten für Feen) und der Buchhandel nicht für kleinkarierte Feinheiten.
Was mir beim Lesen des Lake-Hermanstadt-Artikels jedoch auffiel (und mir wie ein exzellenter, kaum offensichtlicher Vorwand erschien, mal wieder auf meine Doktorarbeit zum Thema hinzuweisen), ist das immanente Durcheinander von Kategorien in diesem Diskurs, sowie die auffällige Bedeutung, die dabei den Reaktionen des Lesers und den Intentionen des Autors zukommt – unscharfe Kriterien, um welche die Literaturwissenschaft sonst gerne einen Bogen schlägt wie unsere drei Embleme um Orks, schwarze Löcher und Knoblauch.
Dies beginnt bereits mit der Feststellung, dass von besagten drei Genres die Science-Fiction als einziges wahrhaft spekulativen Charakter besitzt (dem im englischen Sprachraum populärem Sammelbegriff der speculative fiction zum Trotz). Tatsächlich ist die SF die Einzige, die tapfer an ihre eigene Realisierbarkeit glaubt, was sich auch in John Clutes sehr eleganten Unterscheidung zwischen Fantasy und SF niederschlägt:
Vielleicht wäre es daher sinnvoller (wenn man nicht meine orthographisch gewollt wirkende Unterscheidung zwischen "fantastisch" und "Phantastik" fortschreiben möchte), wie Marco Frenschkowski von "imaginativer Literatur" zu sprechen, wann immer man es mit fantastischen, spekulativen oder anderweitig feenwirksamen Elementen zu tun hat.2 Jedoch habe ich arge Zweifel, dass das Fenster für die Popularisierung neuer oder übersehener Begrifflichkeiten in dieser Debatte noch offen steht – weswegen wir alternativ auch einfach weiter von Feenliteratur sprechen können.
Noch komplizierter wird es nun, wenn man versucht, die Kategorie des (supernatural) horror mit ins Boot zu holen. In dem Artikel auf Lake Hermanstadt heißt es zurecht:
Tatsächlich ist die eigentliche Phantastik in der Traditionslinie von Poe über Lovecraft bis zu King (je nach Tagesform) und Ligotti, die von Buchhandel und weiten Teilen der Leserschaft als "Horror" identifiziert wird, kaum zu fassen, ohne besonderes Augenmerk auf die ästhetische Inszenierung und Leserreaktion zu legen.
Diese Einsicht findet sich implizit schon bei Caillois, der im Phantastischen den berühmten "Riss, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt" sieht, in dem
Ich persönlich hielt diese Forderung nach einer Weltsicht, in der "das Wunder Angst hervorrufen musste", es "unzulässig und erschreckend" geworden war, immer für arbiträr.4 (Tatsächlich war mein gerechter studentischer Zorn auf Caillois einer der Hauptgründe, weshalb ich Fairwater schrieb). Weshalb soll es so undenkbar sein, dass ein entsprechend geneigter Protagonist den Einbruch des bis dato Unmöglichen in seiner Welt willkommen heißt? Der erschreckende oder verstörende Effekt von Phantastik hat abgesehen von ihren klassischerweise unliebsamen Antagonisten (Vampire, Geister, Große Alte) zumeist auch einfach formale Gründe – nämlich dass die Erzählung im Moment des größten Schreckens abbricht, ohne eine Auflösung, insbesondere eine glückliche, zuzulassen. Nicht ohne Grund blüht das Genre in Kurzgeschichten, wie auch Lake Hermanstadt bemerkt.
Ehrlicher fand ich es daher immer, wenn man diesen Effekt des Schreckens nicht als logische Ableitung, sondern als grundlegende Absicht des Genres auffasst, auch wenn das heißt, den intendierten oder gar tatsächlichen Leser zum Kriterium der Phantastik zu machen. So bekanntermaßen H.P. Lovecraft in seinem programmatischen "Supernatural Horror in Literature":
Gegen einen solchen Ansatz richtet sich dagegen Tzvetan Todorov in seinem einflußreichen Theoriewerk:
Stattdessen fordert er von einem phantastischen Text die gezielte Verunsicherung des Lesers ein:
Das "rein" Phantastische okkupiert laut Todorov die gedachte Trennlinie zwischen den Reichen des Wunderbaren und des Profanen – er benutzt also weitgehend dasselbe Modell zweier überlappender Ereignissphären oder Welten wie Caillois (die Trennlinie des einen ist der Riss des anderen), angereichert mit der Forderung nach Unentscheidbarkeit.
Und genau diese Forderung, um den Kreis zu schließen, greift Stanislaw Lem wiederum an:
Vielleicht sollte es nicht verwundern, dass in einer von Surrealisten, Strukturalisten und Schriftstellern geführten Debatte am Ende ein Traumfänger aus Erdbeeren, Aprikosen und Obstkernen steht. Auch ich trage mit meinen widersprüchlichen Sichtweisen als Textproduzent und -rezipient sicher nicht zu einer Präzisierung der Begrifflichkeiten bei.
Aufgrund meiner doppelten Sichtweise halte ich es aber für legitim, nach der Haltung eines Texts, der Intention des Autors und der Reaktion des Lesers zu fragen (die in einer idealen Welt trotz Lovecrafts Zweifeln durchaus in Kongruenz stehen sollten): Versteht sich ein Text als Abbildung einer (theoretischen oder zukünftigen) Wirklichkeit? Möchte er (konfliktfrei) eine Gegenwelt zur allgemein akzeptierten Realität™ zeichnen? Geht es dem Autor darum, dem Leser im Moment der größten Fallhöhe den Boden unter den Füßen wegzuziehen? Oder hat er einfach nur das falsche Pfeifenkraut geraucht und möchte eigentlich eine Allegorie auf den bornierten Beamtenapparat einer südamerikanischen Provinz der Siebzigerjahre erzählen, die aus unerfindlichen Gründen von Klavier spielenden Haifischen regiert wird? (Hierzu ließen sich mehrere andere Artikel verfassen, aber nicht von mir.)
Diese Fragen, so unpräzise sie sein mögen, sind es wert, gestellt zu werden, wenn man sich eine Navigationshilfe bei der Erkundung des weiten Lands der Feenliteratur wünscht – vielleicht gerade, weil sie so grundlegende und persönliche Konzepte von Realitätswahrnehmung, Wunschdenken und vielleicht auch Religiosität berührt. Mit einem reinen Emblemkatalog wird man ebenso an seine Grenzen stoßen wie mit einem präskriptiv angehauchten Modell oder Regelwerk.
Probiert die Fee zu fangen, fragt sie, was sie von euch will – und dann lasst sie bitte wieder fliegen.
Fußnoten:
1 Clute, "Fantasy", 338.
2 Frenschkowski, "Ist Phantastik postreligiös?"
3 Caillois, "Das Bild des Phantastischen", 45f.
4 Caillois, "Das Bild des Phantastischen", 48.
5 Lovecraft, "Supernatural Horror in Literature", 368.
6 Todorov, The Fantastic, 35.
7 Todorov, The Fantastic, 33.
8 Lem, "Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen", 114.
Literatur und Links:
Clute, John, "Fantasy". In ders., John Grant eds., The Encyclopedia of Fantasy. London: Orbit, 1997, 337-39.
Caillois, Roger, "Das Bild des Phantastischen: Vom Märchen bis zur Science Fiction". In Rein A. Zondergeld ed., Phaïcon 1. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1974, 44-83.
Frenschkowski, Marco, "Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen". In Clemens Ruthner, Ursula Reber und Markus May eds., Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Francke 2006, 31-51.
Lem, Stanislaw, "Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen". In Rein A. Zondergeld ed., Phaïcon 1. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1974, 92-122.
Lovecraft, H.P., "Supernatural Horror in Literature". In ders., Dagon and other Macabre Tales. August Derleth, Donald Wandrei, S.T. Joshi eds., Sauk City: Arkham House, 1987, 365-444.
Murilegus rex, "Phantastik vs. Fantasy: Erste Runde". 2017.
https://hermanstadt.blogspot.de/2017/07/phantastik-vs-fantasy-erste-runde.html
Plaschka, Oliver. Verlorene Arkadien: Das pastorale Motiv in der englischen und amerikanischen fantastischen Literatur – H.P. Lovecraft, James Branch Cabell, Mervyn Peake, William Gibson. 2009.
http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/10106
Reß, Alessandra, "Die Fee ist immer da: Genres der Phantastik". 2017.
https://fragmentansichten.com/2017/06/19/die-fee-ist-immer-da/
Todorov, Tzvetan, The Fantastic (Introduction à la litérature fantastique). London: The Press of Case Western Reserve University, 1973.
Gemälde: Oliva, Viktor. Der Absinthtrinker. 1901
Seit gut fünfzig Jahren meinen Literaturwissenschaftler und Buchhändler komplett verschiedene Dinge, wenn sie von "Phantastik" reden. Erstere denken zunächst an die Literatur der Verunsicherung, wie sie (mehr oder weniger brauchbar) von Caillois, Todorov und anderen beschrieben wurde, letztere sehen darin einen drollig geschriebenen Oberbegriff für Fantasy, Science-Fiction und Horror (also landläufig Elfen, Raumschiffe oder Vampire – die drei großen Embleme, die seit hundert Jahren so ziemlich jeder versteht).
Das ist wie gesagt ein altes Problem, das ich hier auch nicht auflösen kann, denn Literaturwissenschaft interessiert sich nicht für Werbeschubladen (und bedauerlicherweise nur selten für Feen) und der Buchhandel nicht für kleinkarierte Feinheiten.
Was mir beim Lesen des Lake-Hermanstadt-Artikels jedoch auffiel (und mir wie ein exzellenter, kaum offensichtlicher Vorwand erschien, mal wieder auf meine Doktorarbeit zum Thema hinzuweisen), ist das immanente Durcheinander von Kategorien in diesem Diskurs, sowie die auffällige Bedeutung, die dabei den Reaktionen des Lesers und den Intentionen des Autors zukommt – unscharfe Kriterien, um welche die Literaturwissenschaft sonst gerne einen Bogen schlägt wie unsere drei Embleme um Orks, schwarze Löcher und Knoblauch.
Dies beginnt bereits mit der Feststellung, dass von besagten drei Genres die Science-Fiction als einziges wahrhaft spekulativen Charakter besitzt (dem im englischen Sprachraum populärem Sammelbegriff der speculative fiction zum Trotz). Tatsächlich ist die SF die Einzige, die tapfer an ihre eigene Realisierbarkeit glaubt, was sich auch in John Clutes sehr eleganten Unterscheidung zwischen Fantasy und SF niederschlägt:
Though fantasy certainly existed for many centuries [...] whenever stories were told which were understood by their authors (and readers) as being impossible, it is quite something else to suggest that the perceived impossibility of these stories was their point – that they stood as a counter-statement to a dominant worldview.
Science Fiction can be distinguished from fantasy on several grounds; but in our terms the most significant difference is that Science Fiction tales are written and read on the presumption that they are possible – if perhaps not yet.1
Vielleicht wäre es daher sinnvoller (wenn man nicht meine orthographisch gewollt wirkende Unterscheidung zwischen "fantastisch" und "Phantastik" fortschreiben möchte), wie Marco Frenschkowski von "imaginativer Literatur" zu sprechen, wann immer man es mit fantastischen, spekulativen oder anderweitig feenwirksamen Elementen zu tun hat.2 Jedoch habe ich arge Zweifel, dass das Fenster für die Popularisierung neuer oder übersehener Begrifflichkeiten in dieser Debatte noch offen steht – weswegen wir alternativ auch einfach weiter von Feenliteratur sprechen können.
Noch komplizierter wird es nun, wenn man versucht, die Kategorie des (supernatural) horror mit ins Boot zu holen. In dem Artikel auf Lake Hermanstadt heißt es zurecht:
Während Fantasy und SF Genres sind, trifft das auf Horror nicht wirklich zu. Horror ist ein Begriff der Ästhetik, nicht der Poetik. Ästhetisch gesehen sind Terence Fishers Dracula, Roman Polanskis Rosemary’s Baby und William Friedkins The Exorcist Horror, genremäßig sind sie Fantasy. Ganz ähnlich ist Ridley Scotts Alien ästhetisch Horror und genremäßig SF, oder Jonathan Demmes Silence of the Lambs ästhetisch Horror, aber genremäßig ein Thriller. Fantasy, SF und Horror auf eine Ebene zu stellen, ist, als würde man Aprikosen, Erdbeeren und Obstkerne auf eine Ebene stellen.
Tatsächlich ist die eigentliche Phantastik in der Traditionslinie von Poe über Lovecraft bis zu King (je nach Tagesform) und Ligotti, die von Buchhandel und weiten Teilen der Leserschaft als "Horror" identifiziert wird, kaum zu fassen, ohne besonderes Augenmerk auf die ästhetische Inszenierung und Leserreaktion zu legen.
Diese Einsicht findet sich implizit schon bei Caillois, der im Phantastischen den berühmten "Riss, einen befremdenden, fast unerträglichen Einbruch in die wirkliche Welt" sieht, in dem
das Wunder zu einer verbotenen Aggression [wird], die bedrohlich wirkt, und die Sicherheit einer Welt zerbricht, in der man bis dahin die Gesetze für allgültig und unverrückbar gehalten hat. Es ist das Unmögliche, das unerwartet in einer Welt auftaucht, aus der das Unmögliche per definitionem verbannt worden ist.3
Ich persönlich hielt diese Forderung nach einer Weltsicht, in der "das Wunder Angst hervorrufen musste", es "unzulässig und erschreckend" geworden war, immer für arbiträr.4 (Tatsächlich war mein gerechter studentischer Zorn auf Caillois einer der Hauptgründe, weshalb ich Fairwater schrieb). Weshalb soll es so undenkbar sein, dass ein entsprechend geneigter Protagonist den Einbruch des bis dato Unmöglichen in seiner Welt willkommen heißt? Der erschreckende oder verstörende Effekt von Phantastik hat abgesehen von ihren klassischerweise unliebsamen Antagonisten (Vampire, Geister, Große Alte) zumeist auch einfach formale Gründe – nämlich dass die Erzählung im Moment des größten Schreckens abbricht, ohne eine Auflösung, insbesondere eine glückliche, zuzulassen. Nicht ohne Grund blüht das Genre in Kurzgeschichten, wie auch Lake Hermanstadt bemerkt.
Ehrlicher fand ich es daher immer, wenn man diesen Effekt des Schreckens nicht als logische Ableitung, sondern als grundlegende Absicht des Genres auffasst, auch wenn das heißt, den intendierten oder gar tatsächlichen Leser zum Kriterium der Phantastik zu machen. So bekanntermaßen H.P. Lovecraft in seinem programmatischen "Supernatural Horror in Literature":
Atmosphere is the all-important thing, for the final criterion of authenticity is not the dovetailing of a plot but the creation of a given sensation. [...] Therefore we must judge a weird tale not by the author's intent, or by the mere mechanics of the plot; but by the emotional level which it attains at its least mundane point. [...] The one test of the really weird is simply this – whether or not there be excited in the reader a profound sense of dread, and of contact with unknown spheres and powers.5
Gegen einen solchen Ansatz richtet sich dagegen Tzvetan Todorov in seinem einflußreichen Theoriewerk:
The sentiment of fear or perplexity is often invoked by theoreticians of the fantastic [...]. Caillois, too, proposes as a 'touchstone of the fantastic [...] the impression of irreducible strangeness.' It is surprising to find such judgments offered by serious critics. If we take their declarations literally – that the sentiment of fear must occur in the reader – we should have to conclude that a work's genre depends on the sang-froid of its reader. Nor does the determination of the sentiment of fear in the characters offer a better opportunity to delimit the genre. In the first place, fairy tales can be stories of fear, as in the case of Perrault [...]. Moreover, there are certain fantastic narratives from which all terror is absent [...]. Fear is often linked to the fantastic, but it is not a necessary condition of the genre.6
Stattdessen fordert er von einem phantastischen Text die gezielte Verunsicherung des Lesers ein:
The fantastic requires the fulfillment of three conditions. First, the text must oblige the reader to consider the world of the characters as a world of living persons and to hesitate between a natural and a supernatural explanation of the events described. Second, this hesitation may also be experienced by a character [...]. Third, the reader must adopt a certain attitude with regard to the text: he will reject allegorical as well as 'poetic' interpretations.7
Das "rein" Phantastische okkupiert laut Todorov die gedachte Trennlinie zwischen den Reichen des Wunderbaren und des Profanen – er benutzt also weitgehend dasselbe Modell zweier überlappender Ereignissphären oder Welten wie Caillois (die Trennlinie des einen ist der Riss des anderen), angereichert mit der Forderung nach Unentscheidbarkeit.
Und genau diese Forderung, um den Kreis zu schließen, greift Stanislaw Lem wiederum an:
Laut Caillois, sagt Todorov höhnisch, ist die Gattungszugehörigkeit eines Werkes vom Grad der Nervenstärke seiner Leser abhängig. Erschrickt der Leser, so haben wir es mit dem Unheimlich-Phantastischen zu tun; bewahrt er kaltes Blut, so gehört das Werk einer anderen Gattung an. [...] Warum eigentlich ist die Nervenstärke eines Lesers [...] kategoriell etwas anderes als die Unschlüssigkeit des Lesers, die Todorov zum Prüfstein seiner Theorie des Phantastischen macht?8
Vielleicht sollte es nicht verwundern, dass in einer von Surrealisten, Strukturalisten und Schriftstellern geführten Debatte am Ende ein Traumfänger aus Erdbeeren, Aprikosen und Obstkernen steht. Auch ich trage mit meinen widersprüchlichen Sichtweisen als Textproduzent und -rezipient sicher nicht zu einer Präzisierung der Begrifflichkeiten bei.
Aufgrund meiner doppelten Sichtweise halte ich es aber für legitim, nach der Haltung eines Texts, der Intention des Autors und der Reaktion des Lesers zu fragen (die in einer idealen Welt trotz Lovecrafts Zweifeln durchaus in Kongruenz stehen sollten): Versteht sich ein Text als Abbildung einer (theoretischen oder zukünftigen) Wirklichkeit? Möchte er (konfliktfrei) eine Gegenwelt zur allgemein akzeptierten Realität™ zeichnen? Geht es dem Autor darum, dem Leser im Moment der größten Fallhöhe den Boden unter den Füßen wegzuziehen? Oder hat er einfach nur das falsche Pfeifenkraut geraucht und möchte eigentlich eine Allegorie auf den bornierten Beamtenapparat einer südamerikanischen Provinz der Siebzigerjahre erzählen, die aus unerfindlichen Gründen von Klavier spielenden Haifischen regiert wird? (Hierzu ließen sich mehrere andere Artikel verfassen, aber nicht von mir.)
Diese Fragen, so unpräzise sie sein mögen, sind es wert, gestellt zu werden, wenn man sich eine Navigationshilfe bei der Erkundung des weiten Lands der Feenliteratur wünscht – vielleicht gerade, weil sie so grundlegende und persönliche Konzepte von Realitätswahrnehmung, Wunschdenken und vielleicht auch Religiosität berührt. Mit einem reinen Emblemkatalog wird man ebenso an seine Grenzen stoßen wie mit einem präskriptiv angehauchten Modell oder Regelwerk.
Probiert die Fee zu fangen, fragt sie, was sie von euch will – und dann lasst sie bitte wieder fliegen.
Fußnoten:
1 Clute, "Fantasy", 338.
2 Frenschkowski, "Ist Phantastik postreligiös?"
3 Caillois, "Das Bild des Phantastischen", 45f.
4 Caillois, "Das Bild des Phantastischen", 48.
5 Lovecraft, "Supernatural Horror in Literature", 368.
6 Todorov, The Fantastic, 35.
7 Todorov, The Fantastic, 33.
8 Lem, "Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen", 114.
Literatur und Links:
Clute, John, "Fantasy". In ders., John Grant eds., The Encyclopedia of Fantasy. London: Orbit, 1997, 337-39.
Caillois, Roger, "Das Bild des Phantastischen: Vom Märchen bis zur Science Fiction". In Rein A. Zondergeld ed., Phaïcon 1. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1974, 44-83.
Frenschkowski, Marco, "Ist Phantastik postreligiös? Religionswissenschaftliche Beiträge zu einer Theorie des Phantastischen". In Clemens Ruthner, Ursula Reber und Markus May eds., Nach Todorov. Beiträge zu einer Definition des Phantastischen in der Literatur. Tübingen: Francke 2006, 31-51.
Lem, Stanislaw, "Tzvetan Todorovs Theorie des Phantastischen". In Rein A. Zondergeld ed., Phaïcon 1. Frankfurt a.M.: Insel Verlag, 1974, 92-122.
Lovecraft, H.P., "Supernatural Horror in Literature". In ders., Dagon and other Macabre Tales. August Derleth, Donald Wandrei, S.T. Joshi eds., Sauk City: Arkham House, 1987, 365-444.
Murilegus rex, "Phantastik vs. Fantasy: Erste Runde". 2017.
https://hermanstadt.blogspot.de/2017/07/phantastik-vs-fantasy-erste-runde.html
Plaschka, Oliver. Verlorene Arkadien: Das pastorale Motiv in der englischen und amerikanischen fantastischen Literatur – H.P. Lovecraft, James Branch Cabell, Mervyn Peake, William Gibson. 2009.
http://www.ub.uni-heidelberg.de/archiv/10106
Reß, Alessandra, "Die Fee ist immer da: Genres der Phantastik". 2017.
https://fragmentansichten.com/2017/06/19/die-fee-ist-immer-da/
Todorov, Tzvetan, The Fantastic (Introduction à la litérature fantastique). London: The Press of Case Western Reserve University, 1973.
Gemälde: Oliva, Viktor. Der Absinthtrinker. 1901
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Wednesday, January 11. 2017
Kurzgeschichten zum Kampfpreis
Die Geschichten vom Ende der Welt gibt es nun auch als Ebook -- für unschlagbar günstige 3,99 €. Wir bieten die Sammlung ohne hartes DRM an, in der Hoffnung, dass kaufen bei dem Preis einfach stressfreier ist als etwaige frei flottierende Kopien abzugreifen.
"Ruthie", eine der SF-Geschichten aus dem Band, wurde im Herbst auch auf Tor Online veröffentlicht. Wer also erst mal "probelesen" möchte, kann sich dort einen Eindruck machen.
"Ruthie", eine der SF-Geschichten aus dem Band, wurde im Herbst auch auf Tor Online veröffentlicht. Wer also erst mal "probelesen" möchte, kann sich dort einen Eindruck machen.
Friday, December 30. 2016
Rogue One - Major Spoiler Rant
tl;dr Ich mochte den Film nicht sonderlich, will ihn aber auch niemandem schlechtreden. Wer den Film noch nicht gesehen hat, sollte den Rant nicht lesen, weil er so ziemlich alles verrät. Wer den Film kultisch verehrt, sollte den Rant ebenfalls nicht lesen, weil er mich danach hassen wird.
Ich gehöre offenbar zu einer Minderheit von Kinogängern, die sich als Star-Wars-Fans fühlen und auf Rogue One freuten, aber eher mittelmäßig beeindruckt waren, um nicht zu sagen enttäuscht. Einige negative Rezensionen im Netz teilen manche meiner Vorbehalte, aber nicht meinen Hauptkritikpunkt, weshalb ich kurz darlegen möchte, was mich an dem Film störte:
1. Die Charaktere sind extrem flach. Bei den meisten empfand ich es nicht als nötig, mir ihre Namen zu merken, und man erfährt buchstäblich nichts über sie als welche Waffe sie am liebsten benutzen. Es wurde häufig angemerkt, dass man die gelungensten Charaktere der Star-Wars-Reihe (hauptsächlich der mittleren Trilogie) problemlos einem Freund beschreiben kann, ohne mit einem Wort auf die Handlung eingehen zu müssen, während man zu den missglücktesten Charakteren (hauptsächlich der Prequel-Trilogie) eigentlich nur sagen kann, was sie tun, wen sie töten, wann sie sterben. The Force Awakens schlägt sich auf dieser Skala ganz ordentlich, Rogue One versagt meines Erachtens.
2. Teil dieses Problems sind die einfallslosen Dialoge, die weder sonderlich lustig sind (soll ja ein Kriegsfilm sein) noch sonderlich Schärfe haben (soll ja trotzdem Unterhaltung sein). Ausgerechnet die Heldin verbringt eine Menge Zeit damit, wortlos-ernst in die Kamera zu blicken. In derselben Zeit hätte Rey gefühlt drei verschiedene Konflikte mit sich selbst durchgemacht und dabei noch einen Streit mit Finn gewonnen. Dabei ist Jyn praktisch die einzige Figur, die so etwas wie eine Wandlung durchläuft, doch die beschränkt sich eigentlich auch darauf, dass sie erst sagt, die Rebellion könne sie mal, und dann, man müsse jetzt doch aber trotzdem. (Zu keinem Zeitpunkt sagt sie übrigens »I rebel« wie im Trailer, und ganz ehrlich, ich hätte es ihr auch nicht abgenommen.)
3. Auch aus diesen Gründen haben die Bösewichte den Film für mich besser getragen als die Hauptfiguren – was ein Problem in einer eher dunklen Geschichte wie Rogue One ist, die Massenmord und Kriegsverbrechen deutlicher in Szene setzt als alle vorigen Filme der Reihe. Krennic hat mich überzeugt, Darth Vader hat vor allem zum Ende hin fast schon zu viel Swag für meinen Geschmack. Selbst Tarkin versprüht eine gewisse unheimliche Aura, die allerdings auch von den meines Erachtens nicht überzeugenden CGI-Effekten herrührt, die ihn mehr schlecht denn recht zum Leben erwecken und mit gummiartiger Ratlosigkeit die echten Gefühle eines fremden Gesichts imitieren lassen.
4. Ähnlich wie Darth Vader werten auch die vielen kleinen Referenzen auf andere Star-Wars-Filme Rogue One in einer Weise auf, die schmerzlich deutlich zeigt, wie wenig eigenen Input der Film zum etablierten Universum bringt. Mit anderen Worten: Es sind vor allem die Gastauftritte, die bekannten Elemente, die musikalischen Zitate, die Rogue One gelegentlich etwas Gravitas verleihen. Die Schauplätze sind großartig, die Welten mit die überzeugendsten, die man bis jetzt zu sehen bekam; aber fast jeder Kampf, jede Schlüsselszene variiert eine Einstellung oder Idee, die man anderswo schon mal gesehen hat. Empfand ich es bei Force Awakens noch als bewusstes und zielführendes Reimagening, das vor allem die Peinlichkeit der Prequel-Trilogie vergessen machen sollte, so hat es mich hier gestört, weil ich mehr Mut zur Innovation erwartet hätte.
5. Am meisten verdarb mir aber ausgerechnet das Ende die Freude, denn Rogue One funktioniert meines Erachtens auch und insbesondere nicht als der Kriegsfilm, der er streckenweise doch sein will. Ob die Charaktere nun bewusst eindimensional gehalten wurden, damit der Zuschauer zum Schluss nicht zu sehr an ihnen hängt, oder ob die Vielzahl an Drehbuchautoren den Film einfach verwässert hat – ihr reihenweiser Tod wirkte auf mich mechanisch, unmotiviert und vor allem auf schlimmstmögliche (weil unfreiwillige und latent verherrlichende) Weise banal: Jeder darf noch einen letzten Hebel umlegen, ein paar Gegner abschießen, dann wird er nicht länger gebraucht – und der Film scheint allen Ernstes zu erwarten, dass man einen solchen Soldatentod gutheißt oder wenigstens doch hinnimmt.
Eine alte Weisheit lautet, dass jeder ernstzunehmende Kriegsfilm in Wahrheit ein Antikriegsfilm ist. Ein Kriegsfilm versucht nicht, den Zuschauer mit einem versöhnlichen oder gar befriedigten Gefühl zurückzulassen – er will schockieren, bloßlegen, ein verbotenes Buch aus dem Giftschrank menschlichen Verhaltens aufschlagen. Einen Gewinner kann und darf es nicht geben. Mit diesen Motiven zu spielen und gleichzeitig nicht den Mut aufzubringen, die Fans tatsächlich mit den Schrecken des Kriegs vor den Kopf zu stoßen, ist meines Erachtens der Kardinalfehler dieses Films in seiner letzten Fassung, an dem lange noch mit heißer Nadel herumgestrickt wurde. Die "Message" dieses Mischmaschs ist mehr als unbefriedigend. Star Wars sagte bislang immer: Überkomme Deine Ängste, und das Gute in Dir und anderen wird obsiegen; wir sind alle rettenswert und wichtig. Rogue One sagt: Manchmal ist es voll okay, sich für die Sache zu opfern, denn so wichtig ist man als Individuum ja auch wieder nicht.
Ich bin durchaus der Ansicht, dass Kriegsgeschichten in jedes Genre eingebettet möglich sind. Aber angesichts der Restflauschigkeit, die sich Rogue One als familientauglicher Blockbuster trotz allem erhalten will, wäre es besser gewesen, man hätte wenigstens ein paar Charaktere überleben lassen und am Ende auf einem weit genug vom Zentrum des Geschehens entfernten Planeten entsorgt; dafür hätten die Tode der anderen umso tragischer ausfallen dürfen. Doch für beides – echte Tragik oder einen Neubeginn zum Schluss – hätten die Charaktere deutlich mehr Tiefe und vor allem so etwas wie eigene Ziele und Wünsche besitzen müssen. Stattdessen lässt der Film das langweiligste Liebespaar seit Anakin und Amidala vor einem beklemmend realistisch wirkenden Apocalypse-Now-Hintergrund dem Tod mit der gleichen stoischen Teilnahmslosigkeit wie dem Rest der Geschichte entgegensehen. Und was ist das anderes als Hurrah-Patriotismus, wenn man dem Zuschauer sagt: Sie sterben jetzt zwar, aber wenigstens haben sie ihren Dienst getan und sterben als Helden? Das ist zu Zeiten, in denen Populismus und Neofaschismus die Welt regieren, die schlechteste Botschaft, die ein nach seinem Selbstverständnis liberaler Film seinem Publikum senden kann.
Ich gehöre offenbar zu einer Minderheit von Kinogängern, die sich als Star-Wars-Fans fühlen und auf Rogue One freuten, aber eher mittelmäßig beeindruckt waren, um nicht zu sagen enttäuscht. Einige negative Rezensionen im Netz teilen manche meiner Vorbehalte, aber nicht meinen Hauptkritikpunkt, weshalb ich kurz darlegen möchte, was mich an dem Film störte:
1. Die Charaktere sind extrem flach. Bei den meisten empfand ich es nicht als nötig, mir ihre Namen zu merken, und man erfährt buchstäblich nichts über sie als welche Waffe sie am liebsten benutzen. Es wurde häufig angemerkt, dass man die gelungensten Charaktere der Star-Wars-Reihe (hauptsächlich der mittleren Trilogie) problemlos einem Freund beschreiben kann, ohne mit einem Wort auf die Handlung eingehen zu müssen, während man zu den missglücktesten Charakteren (hauptsächlich der Prequel-Trilogie) eigentlich nur sagen kann, was sie tun, wen sie töten, wann sie sterben. The Force Awakens schlägt sich auf dieser Skala ganz ordentlich, Rogue One versagt meines Erachtens.
2. Teil dieses Problems sind die einfallslosen Dialoge, die weder sonderlich lustig sind (soll ja ein Kriegsfilm sein) noch sonderlich Schärfe haben (soll ja trotzdem Unterhaltung sein). Ausgerechnet die Heldin verbringt eine Menge Zeit damit, wortlos-ernst in die Kamera zu blicken. In derselben Zeit hätte Rey gefühlt drei verschiedene Konflikte mit sich selbst durchgemacht und dabei noch einen Streit mit Finn gewonnen. Dabei ist Jyn praktisch die einzige Figur, die so etwas wie eine Wandlung durchläuft, doch die beschränkt sich eigentlich auch darauf, dass sie erst sagt, die Rebellion könne sie mal, und dann, man müsse jetzt doch aber trotzdem. (Zu keinem Zeitpunkt sagt sie übrigens »I rebel« wie im Trailer, und ganz ehrlich, ich hätte es ihr auch nicht abgenommen.)
3. Auch aus diesen Gründen haben die Bösewichte den Film für mich besser getragen als die Hauptfiguren – was ein Problem in einer eher dunklen Geschichte wie Rogue One ist, die Massenmord und Kriegsverbrechen deutlicher in Szene setzt als alle vorigen Filme der Reihe. Krennic hat mich überzeugt, Darth Vader hat vor allem zum Ende hin fast schon zu viel Swag für meinen Geschmack. Selbst Tarkin versprüht eine gewisse unheimliche Aura, die allerdings auch von den meines Erachtens nicht überzeugenden CGI-Effekten herrührt, die ihn mehr schlecht denn recht zum Leben erwecken und mit gummiartiger Ratlosigkeit die echten Gefühle eines fremden Gesichts imitieren lassen.
4. Ähnlich wie Darth Vader werten auch die vielen kleinen Referenzen auf andere Star-Wars-Filme Rogue One in einer Weise auf, die schmerzlich deutlich zeigt, wie wenig eigenen Input der Film zum etablierten Universum bringt. Mit anderen Worten: Es sind vor allem die Gastauftritte, die bekannten Elemente, die musikalischen Zitate, die Rogue One gelegentlich etwas Gravitas verleihen. Die Schauplätze sind großartig, die Welten mit die überzeugendsten, die man bis jetzt zu sehen bekam; aber fast jeder Kampf, jede Schlüsselszene variiert eine Einstellung oder Idee, die man anderswo schon mal gesehen hat. Empfand ich es bei Force Awakens noch als bewusstes und zielführendes Reimagening, das vor allem die Peinlichkeit der Prequel-Trilogie vergessen machen sollte, so hat es mich hier gestört, weil ich mehr Mut zur Innovation erwartet hätte.
5. Am meisten verdarb mir aber ausgerechnet das Ende die Freude, denn Rogue One funktioniert meines Erachtens auch und insbesondere nicht als der Kriegsfilm, der er streckenweise doch sein will. Ob die Charaktere nun bewusst eindimensional gehalten wurden, damit der Zuschauer zum Schluss nicht zu sehr an ihnen hängt, oder ob die Vielzahl an Drehbuchautoren den Film einfach verwässert hat – ihr reihenweiser Tod wirkte auf mich mechanisch, unmotiviert und vor allem auf schlimmstmögliche (weil unfreiwillige und latent verherrlichende) Weise banal: Jeder darf noch einen letzten Hebel umlegen, ein paar Gegner abschießen, dann wird er nicht länger gebraucht – und der Film scheint allen Ernstes zu erwarten, dass man einen solchen Soldatentod gutheißt oder wenigstens doch hinnimmt.
Eine alte Weisheit lautet, dass jeder ernstzunehmende Kriegsfilm in Wahrheit ein Antikriegsfilm ist. Ein Kriegsfilm versucht nicht, den Zuschauer mit einem versöhnlichen oder gar befriedigten Gefühl zurückzulassen – er will schockieren, bloßlegen, ein verbotenes Buch aus dem Giftschrank menschlichen Verhaltens aufschlagen. Einen Gewinner kann und darf es nicht geben. Mit diesen Motiven zu spielen und gleichzeitig nicht den Mut aufzubringen, die Fans tatsächlich mit den Schrecken des Kriegs vor den Kopf zu stoßen, ist meines Erachtens der Kardinalfehler dieses Films in seiner letzten Fassung, an dem lange noch mit heißer Nadel herumgestrickt wurde. Die "Message" dieses Mischmaschs ist mehr als unbefriedigend. Star Wars sagte bislang immer: Überkomme Deine Ängste, und das Gute in Dir und anderen wird obsiegen; wir sind alle rettenswert und wichtig. Rogue One sagt: Manchmal ist es voll okay, sich für die Sache zu opfern, denn so wichtig ist man als Individuum ja auch wieder nicht.
Ich bin durchaus der Ansicht, dass Kriegsgeschichten in jedes Genre eingebettet möglich sind. Aber angesichts der Restflauschigkeit, die sich Rogue One als familientauglicher Blockbuster trotz allem erhalten will, wäre es besser gewesen, man hätte wenigstens ein paar Charaktere überleben lassen und am Ende auf einem weit genug vom Zentrum des Geschehens entfernten Planeten entsorgt; dafür hätten die Tode der anderen umso tragischer ausfallen dürfen. Doch für beides – echte Tragik oder einen Neubeginn zum Schluss – hätten die Charaktere deutlich mehr Tiefe und vor allem so etwas wie eigene Ziele und Wünsche besitzen müssen. Stattdessen lässt der Film das langweiligste Liebespaar seit Anakin und Amidala vor einem beklemmend realistisch wirkenden Apocalypse-Now-Hintergrund dem Tod mit der gleichen stoischen Teilnahmslosigkeit wie dem Rest der Geschichte entgegensehen. Und was ist das anderes als Hurrah-Patriotismus, wenn man dem Zuschauer sagt: Sie sterben jetzt zwar, aber wenigstens haben sie ihren Dienst getan und sterben als Helden? Das ist zu Zeiten, in denen Populismus und Neofaschismus die Welt regieren, die schlechteste Botschaft, die ein nach seinem Selbstverständnis liberaler Film seinem Publikum senden kann.
Tuesday, December 6. 2016
Out of Print (ist vor dem Print)
Wichtige Durchsage zu Fairwater und zum Kristallpalast: Meine beiden Romane, die 2007 und 2010 bei Feder&Schwert; erschienen, sind aktuell (fast) nicht mehr erhältlich. Das ist auch gut so. Und wird sich bald auch wieder ändern. Was noch besser ist!
Zu den Hintergründen: Wie vielleicht bekannt, wurde Feder&Schwert; diesen Sommer an den Kölner Uhrwerk-Verlag verkauft. Das neue Team führt die Marke auch mit viel Engagement fort, allerdings war Der Kristallpalast bereits zum Zeitpunkt der Übernahme abverkauft und eine Neuauflage danach nicht mehr geplant. Deshalb habe ich meinen Vertrag gekündigt und befinde mich aktuell in Verhandlungen mit einem schönen kleinen Verlag, der eine Neuauflage sowohl als E-Book als auch im Print vorsieht, eventuell mit ein paar Extras. Sobald es hierzu etwas Konkretes gibt, mache ich das selbstverständlich bekannt.
Das heißt, dass man den Kristallpalast als Taschenbuch die nächsten Monate nur noch antiquarisch oder über Dritthändler erstehen kann. Alle digitalen Ausgaben, die eventuell kursieren, sind Schwarzkopien. In keinem von beiden Fällen verdiene ich etwas an den Verkäufen. Ich habe nichts dagegen, wenn ihr Antiquariate unterstützt, aber von Downloads würde ich bitten, einstweilen abzusehen, bis sich eine neue Auflage konkretisiert. Ich arbeite daran!
Bei Fairwater war die Situation noch komplizierter: zwei Verlage, zwei Agenturen, zwei Fassungen des Texts und ein paar selbstverschuldete Fehler im Vertragswerk, die mir schon lange ein Dorn im Auge waren -- all dies schrie nach einem Neuanfang. Hier gibt es bereits sehr konkrete Pläne, aber auch über die sollte ich erst reden, wenn es so weit ist.
Da die Erstauflage von Fairwater relativ hoch war, gibt es vom Taschenbuch noch einige Restexemplare, welche die nächsten Monate abverkauft werden. Das hat alles seine Richtigkeit. Das E-Book mit dem aktualisierten Text, das ich an dieser Stelle vor einem Jahr noch bewarb, ist aber bereits wieder aus dem Verkehr gezogen. Auch hier gilt: Falls Fassungen davon im Netz kursieren, sind diese nicht autorisiert und ich verdiene nicht daran. Bitte geduldet euch noch ein wenig! Und entschuldigt die Umstände.
Aktueller Stand ist der, dass beide Romane, Fairwater und Der Kristallpalast, 2018 wieder im Handel sein werden, sowohl als E-Book als auch in gedruckter Form.
Bis dahin bleiben sie kultiger Underground, was ja auch nicht verkehrt ist.
Zu den Hintergründen: Wie vielleicht bekannt, wurde Feder&Schwert; diesen Sommer an den Kölner Uhrwerk-Verlag verkauft. Das neue Team führt die Marke auch mit viel Engagement fort, allerdings war Der Kristallpalast bereits zum Zeitpunkt der Übernahme abverkauft und eine Neuauflage danach nicht mehr geplant. Deshalb habe ich meinen Vertrag gekündigt und befinde mich aktuell in Verhandlungen mit einem schönen kleinen Verlag, der eine Neuauflage sowohl als E-Book als auch im Print vorsieht, eventuell mit ein paar Extras. Sobald es hierzu etwas Konkretes gibt, mache ich das selbstverständlich bekannt.
Das heißt, dass man den Kristallpalast als Taschenbuch die nächsten Monate nur noch antiquarisch oder über Dritthändler erstehen kann. Alle digitalen Ausgaben, die eventuell kursieren, sind Schwarzkopien. In keinem von beiden Fällen verdiene ich etwas an den Verkäufen. Ich habe nichts dagegen, wenn ihr Antiquariate unterstützt, aber von Downloads würde ich bitten, einstweilen abzusehen, bis sich eine neue Auflage konkretisiert. Ich arbeite daran!
Bei Fairwater war die Situation noch komplizierter: zwei Verlage, zwei Agenturen, zwei Fassungen des Texts und ein paar selbstverschuldete Fehler im Vertragswerk, die mir schon lange ein Dorn im Auge waren -- all dies schrie nach einem Neuanfang. Hier gibt es bereits sehr konkrete Pläne, aber auch über die sollte ich erst reden, wenn es so weit ist.
Da die Erstauflage von Fairwater relativ hoch war, gibt es vom Taschenbuch noch einige Restexemplare, welche die nächsten Monate abverkauft werden. Das hat alles seine Richtigkeit. Das E-Book mit dem aktualisierten Text, das ich an dieser Stelle vor einem Jahr noch bewarb, ist aber bereits wieder aus dem Verkehr gezogen. Auch hier gilt: Falls Fassungen davon im Netz kursieren, sind diese nicht autorisiert und ich verdiene nicht daran. Bitte geduldet euch noch ein wenig! Und entschuldigt die Umstände.
Aktueller Stand ist der, dass beide Romane, Fairwater und Der Kristallpalast, 2018 wieder im Handel sein werden, sowohl als E-Book als auch in gedruckter Form.
Bis dahin bleiben sie kultiger Underground, was ja auch nicht verkehrt ist.
Sunday, November 27. 2016
Calling it early
(Dieser Text richtet sich vor allem an die Menschen, die mir in sozialen Netzwerken folgen.)
relevant: Fuck you, 2016
Nach der US-Wahl anfangs des Monats bin ich in ein ziemlich tiefes Loch gesackt, aus Gründen, die ich glaube ich nicht zu erklären brauche. Gefühle der Machtlosigkeit und der Wut mischten sich mit Angst um den Zustand der Weltpolitik, wie ich sie zuletzt nach dem 11. September 2001 empfunden hatte.
Meine Meinung zu diesem Themenkomplex hat sich kaum geändert. Aber meine Ursachensuche, weshalb ich so außerordentlich schlecht damit umging, führte zu einer eingehenden Beschäftigung mit meinem Onlineverhalten, das mir, sagen wir mal, nicht mehr maßvoll genug war. Die ersten Tage "ohne" waren durchaus hart. Die Anpassung an die neue Wirklichkeit da draußen auch. Nachrichten ließ ich wenn überhaupt nur in Form von Stephen Colbert an mich ran. Es folgten ein finsterer Herbst-Blues (ich weiß nicht, was ihr alle mit dieser Jahreszeit habt, ich finde sie zum Kotzen -- there, I said it!), ein anhaltender Krankheitsfall in der Familie und der Tod meines Laptops, auf dem ich meine letzten Romane und diverse Übersetzungen schrieb.
Aktuell bin ich mit Linux unterwegs (und Linux, habe ich gelernt, kann ein echtes Arschloch sein). Nebenbei habe ich Sport getrieben, zum ersten Mal seit Monaten wieder ein Buch gelesen, viel Freude mit Rotwein, Kahlúa und Russian Standard gehabt und eine Reihe obskurer britischer Bands entdeckt, die eine gemeinsame Liebe zu den Cardiacs, Kleinorgeln und Sea Shanties verbindet.
Beinahe wäre ich auch in eine Partei eingetreten, aber das erwies sich als zu teuer (finde den Fehler).
Was mich im Moment nicht wirklich glücklich macht, ist das Autorenkaraoke. Dabei war es ein ziemlich guter Monat: Auf TOR online gab es eine Kurzgeschichte von mir, Audible haben »Marco Polo« als Hörbuch gemacht, und bei Alessandra Reß kommt dieser Tage noch ein schönes Feature zum »Licht hinter dem Wolken«. Auch das E-Book zum »Öden Land« müsste jetzt eigentlich erscheinen, und der nächste Perry steht ebenfalls in den Startlöchern.
Aber Werbung funktioniert für mich gerade höchstens aus der gefühlten Deckung meines Blogs heraus. Ob »Marco« rockt oder nicht, entscheidet auch nicht meine soziale Witzigkeit, sondern der Absatz im altbackenen Buchhandel. Ich kann (und muss, zum Glück) nicht nur vom Schreiben leben. Von daher kann ich die Alphörner der Verlautbarung auch eine Weile ins Warme stellen und die Hofberichterstattung auf Standby schalten.
Leider hab ich mich nie richtig entschieden, ob ich Twitter eigentlich »privat« oder »dienstlich« nutzen will, und das rächt sich gerade. Der Stress entsteht für mich vor allem durch die Vielzahl verschiedener Rollen, die ich das Gefühl habe, bedienen zu müssen. Und selbst kleinste Missverständnisse, für die soziale Netzwerke ja das natürliche Biotop darstellen, beschäftigen mich in Phasen wie diesen mehr, als jeder Therapeut mir raten würde. Vielleicht ist meine Filterblase auch immer noch zu weit. In jedem Fall brauch ich gerade mehr Moll auf mein Hirnchakra (im Grunde meines Herzens bin ich nämlich ein harmoniesüchtiger Hippie -- und jeder, der mir das nicht glaubt, kriegt eine auf die Zwölf!).
Was mich aktuell dagegen ziemlich glücklich macht, ist das Übersetzen: Im Sommer hatte ich die Ehre (no irony here), einige Kurzgeschichten von Ray Bradbury einzudeutschen, die mich im positiven Sinn an meine Grenzen trieben. Das war toll. Aktuell übersetze ich einen anarchistischen, antikapitalistischen Fantasyroman mit massig Splatter und Gefluche, in dem ein Echsenmensch mit ausgeprägter Syntaxschwäche die Probleme der Welt mit seinem Kriegshammer eindost. Und das ist genau, was ich im Augenblick brauche.
Außerdem habe ich noch ein Langzeitexperiment mit Kahlúa, Vanille-Soja-Milch und veganen Marshmallows am Laufen. Und auch das mit den Sea Shanties ist längst noch nicht durch.
Von daher weiß ich noch nicht genau, wie das mit mir und Twitter weitergeht. Manchmal habe ich in der Öffentlichkeit eine größere Klappe, als gut für mich ist, und man drohte mir ja auch schon mit dem Anwalt (gruselige Erinnerungen an meine Schulzeit keimen hier auf. Richie Tozier, anyone?). Manchmal kommen nachts die Geister der Stummgeschalteten zu mir und mahnen mich mit matten Stimmen, ihnen wieder mehr Gehör zu schenken. Ich hab mich auch schon schlau gemacht, wie das mit dem Löschen eigentlich funktioniert, aber den Trick haben andere schon weitaus besser gemacht, also lass ich das eher.
Vielleicht leg ich mir aber einen neuen Account zu (oder zwei. Oder acht. Oder dreißigdreiviertel), gebe mir fancy Nicks oder wechsle endlich meinen Avatar (ich trag schon lang keine Hüte mehr -- traurige Wahrheit: mein Kopf ist zu groß). Vielleicht entfolge ich auch -- der gefräßige Plapperkäfer lässt grüßen -- sämtliche Nachrichtenquellen, damit die Welt mich nicht mehr sieht (was soll schon passieren? Ich rechne mit weiteren Referenden und dem Ende allen Denkens, wie wir es kennen).
Aber wenn ich zurückomme, muss ich es schaffen, weniger als vierzehn Stunden am Tag an der Timeline zu kleben wie Garfield an der Fliegengittertür. Da ich diesen goldenen Weg noch nicht gefunden habe, läuft hier noch ein Weilchen das Schweigen der Hörner. Die nächsten Wochen plane ich mir einen Ekel an Glühwein anzutrainieren, noch das ein oder andere Buch zu lesen, eine kleine Theaterrolle einzustudieren und zwischendrin den neuen Laptop einzurichten.
Kleines ernst gemeintes Danke für euer Verständnis und lieben Gruß an euch alle. Wenn was ist: Ich checke wie alle Altvorderen verantwortungsvoll meine Emails. Mentions erreichen mich nicht, Direktnachrichten nur auf Umwegen. Wir lesen uns spätestens im neuen Jahr.
relevant: Fuck you, 2016
Nach der US-Wahl anfangs des Monats bin ich in ein ziemlich tiefes Loch gesackt, aus Gründen, die ich glaube ich nicht zu erklären brauche. Gefühle der Machtlosigkeit und der Wut mischten sich mit Angst um den Zustand der Weltpolitik, wie ich sie zuletzt nach dem 11. September 2001 empfunden hatte.
Meine Meinung zu diesem Themenkomplex hat sich kaum geändert. Aber meine Ursachensuche, weshalb ich so außerordentlich schlecht damit umging, führte zu einer eingehenden Beschäftigung mit meinem Onlineverhalten, das mir, sagen wir mal, nicht mehr maßvoll genug war. Die ersten Tage "ohne" waren durchaus hart. Die Anpassung an die neue Wirklichkeit da draußen auch. Nachrichten ließ ich wenn überhaupt nur in Form von Stephen Colbert an mich ran. Es folgten ein finsterer Herbst-Blues (ich weiß nicht, was ihr alle mit dieser Jahreszeit habt, ich finde sie zum Kotzen -- there, I said it!), ein anhaltender Krankheitsfall in der Familie und der Tod meines Laptops, auf dem ich meine letzten Romane und diverse Übersetzungen schrieb.
Aktuell bin ich mit Linux unterwegs (und Linux, habe ich gelernt, kann ein echtes Arschloch sein). Nebenbei habe ich Sport getrieben, zum ersten Mal seit Monaten wieder ein Buch gelesen, viel Freude mit Rotwein, Kahlúa und Russian Standard gehabt und eine Reihe obskurer britischer Bands entdeckt, die eine gemeinsame Liebe zu den Cardiacs, Kleinorgeln und Sea Shanties verbindet.
Beinahe wäre ich auch in eine Partei eingetreten, aber das erwies sich als zu teuer (finde den Fehler).
Was mich im Moment nicht wirklich glücklich macht, ist das Autorenkaraoke. Dabei war es ein ziemlich guter Monat: Auf TOR online gab es eine Kurzgeschichte von mir, Audible haben »Marco Polo« als Hörbuch gemacht, und bei Alessandra Reß kommt dieser Tage noch ein schönes Feature zum »Licht hinter dem Wolken«. Auch das E-Book zum »Öden Land« müsste jetzt eigentlich erscheinen, und der nächste Perry steht ebenfalls in den Startlöchern.
Aber Werbung funktioniert für mich gerade höchstens aus der gefühlten Deckung meines Blogs heraus. Ob »Marco« rockt oder nicht, entscheidet auch nicht meine soziale Witzigkeit, sondern der Absatz im altbackenen Buchhandel. Ich kann (und muss, zum Glück) nicht nur vom Schreiben leben. Von daher kann ich die Alphörner der Verlautbarung auch eine Weile ins Warme stellen und die Hofberichterstattung auf Standby schalten.
Leider hab ich mich nie richtig entschieden, ob ich Twitter eigentlich »privat« oder »dienstlich« nutzen will, und das rächt sich gerade. Der Stress entsteht für mich vor allem durch die Vielzahl verschiedener Rollen, die ich das Gefühl habe, bedienen zu müssen. Und selbst kleinste Missverständnisse, für die soziale Netzwerke ja das natürliche Biotop darstellen, beschäftigen mich in Phasen wie diesen mehr, als jeder Therapeut mir raten würde. Vielleicht ist meine Filterblase auch immer noch zu weit. In jedem Fall brauch ich gerade mehr Moll auf mein Hirnchakra (im Grunde meines Herzens bin ich nämlich ein harmoniesüchtiger Hippie -- und jeder, der mir das nicht glaubt, kriegt eine auf die Zwölf!).
Was mich aktuell dagegen ziemlich glücklich macht, ist das Übersetzen: Im Sommer hatte ich die Ehre (no irony here), einige Kurzgeschichten von Ray Bradbury einzudeutschen, die mich im positiven Sinn an meine Grenzen trieben. Das war toll. Aktuell übersetze ich einen anarchistischen, antikapitalistischen Fantasyroman mit massig Splatter und Gefluche, in dem ein Echsenmensch mit ausgeprägter Syntaxschwäche die Probleme der Welt mit seinem Kriegshammer eindost. Und das ist genau, was ich im Augenblick brauche.
Außerdem habe ich noch ein Langzeitexperiment mit Kahlúa, Vanille-Soja-Milch und veganen Marshmallows am Laufen. Und auch das mit den Sea Shanties ist längst noch nicht durch.
Von daher weiß ich noch nicht genau, wie das mit mir und Twitter weitergeht. Manchmal habe ich in der Öffentlichkeit eine größere Klappe, als gut für mich ist, und man drohte mir ja auch schon mit dem Anwalt (gruselige Erinnerungen an meine Schulzeit keimen hier auf. Richie Tozier, anyone?). Manchmal kommen nachts die Geister der Stummgeschalteten zu mir und mahnen mich mit matten Stimmen, ihnen wieder mehr Gehör zu schenken. Ich hab mich auch schon schlau gemacht, wie das mit dem Löschen eigentlich funktioniert, aber den Trick haben andere schon weitaus besser gemacht, also lass ich das eher.
Vielleicht leg ich mir aber einen neuen Account zu (oder zwei. Oder acht. Oder dreißigdreiviertel), gebe mir fancy Nicks oder wechsle endlich meinen Avatar (ich trag schon lang keine Hüte mehr -- traurige Wahrheit: mein Kopf ist zu groß). Vielleicht entfolge ich auch -- der gefräßige Plapperkäfer lässt grüßen -- sämtliche Nachrichtenquellen, damit die Welt mich nicht mehr sieht (was soll schon passieren? Ich rechne mit weiteren Referenden und dem Ende allen Denkens, wie wir es kennen).
Aber wenn ich zurückomme, muss ich es schaffen, weniger als vierzehn Stunden am Tag an der Timeline zu kleben wie Garfield an der Fliegengittertür. Da ich diesen goldenen Weg noch nicht gefunden habe, läuft hier noch ein Weilchen das Schweigen der Hörner. Die nächsten Wochen plane ich mir einen Ekel an Glühwein anzutrainieren, noch das ein oder andere Buch zu lesen, eine kleine Theaterrolle einzustudieren und zwischendrin den neuen Laptop einzurichten.
Kleines ernst gemeintes Danke für euer Verständnis und lieben Gruß an euch alle. Wenn was ist: Ich checke wie alle Altvorderen verantwortungsvoll meine Emails. Mentions erreichen mich nicht, Direktnachrichten nur auf Umwegen. Wir lesen uns spätestens im neuen Jahr.
Posted by JL
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Monday, October 31. 2016
Wir haben das jetzt mal ohne gemacht
Meine beiden Fantasy-Romane bei Klett-Cotta -- Die Magier von Montparnasse und Das Licht hinter den Wolken -- sind als E-Book ab sofort mit Wasserzeichen erhältlich. Das heißt: ohne hartes DRM. Adobe Digital Editions wird nicht länger benötigt. Rejoice!
Ich freue mich sehr über diesen Schritt, weil er ein Plus an Kundenfreundlichkeit bedeutet. Egal, wie viele E-Reader ihr daheim besitzt, ihr könnt die Bücher nun endlich benutzen wie jede andere Datei: Ihr könnt sie verschieben, Backups anlegen, eurem Partner schenken usw. Das Wasserzeichen ist lediglich ein unsichtbarer Zeichenschlüssel, der die Datei individualisiert: Würden Schwarzkopien einer solchen Datei im Internet kursieren, könnte man zurückverfolgen, bei wem die Kette anfing. Dies ist eine Art Rückversicherung der Verlage. Solange man das Buch aber einfach nur benutzt wie ein normales Buch und nicht in der ganzen Welt verbreitet, merkt man davon in der Regel nichts.
Ich persönlich schätze die wirtschaftliche Bedeutung von Schwarzkopien deutlich geringer ein als viele andere Autoren oder Verlage das tun. Häufig wird angenommen, jede Kopie eines Werkes würde einen Verkauf weniger bedeuten, und jeder, der ein Werk kopiert, träfe in böswilliger Absicht eine kriminelle Entscheidung. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie viele großartige Schallplatten ich in meiner Jugend von Freunden auf Kassette aufnahm, und wie viele schreckliche Schallplatten ich versehentlich stattdessen kaufte, weiß ich, dass es so einfach nicht ist.
Werke werden verschenkt, verliehen und second hand gehandelt, manchmal gehen sie kaputt und manchmal werden sie auch weggeworfen. Andere werden einfach nur gesammelt aber nie benutzt. Und manchmal werden sie vielleicht auch geklaut. Eine gewisse "Unschärfe" bleibt immer. Der ideale, mündige Kunde, ob nun rechtschaffen gut oder rechtschaffen böse, ist in jedem Fall eine Illusion. Von daher sehe ich das eher wie Michael J. Sullivan oder Cory Doctorow: Ich freue mich über jeden Leser, dem meine Geschichten wirklich etwas bedeuten, und hoffe darauf, dass er oder sie mich in irgendeiner Form weiterempfiehlt oder unterstützt, sei es durch Buchkäufe, Bewertungen oder Mundpropaganda.
Natürlich heißt das nicht, dass mir egal ist, ob man für meine Arbeit bezahlt oder nicht. Ich glaube bloß nicht, dass ein nennenswerter Prozentsatz meiner Leser diese Abwägung wirklich in dieser Form trifft. Platt gesagt: Wer sich die Mühe macht, meine Bücher unentgeltlich zu erwerben, ist entweder schlau genug, dass er seine Gründe haben wird, oder dumm genug, dass er ohnehin wenig Spaß damit hätte. Jedem sollte klar sein, dass ich als Freiberufler darauf angewiesen bin, Geld zu verdienen. Und es geht hierbei gar nicht mal in erster Linie darum, ob ich jetzt für ein verkauftes Buch meinen Tantiemeneuro kriege oder nicht. Fast noch wichtiger ist, ob für meinen Verlag die Bilanz irgendwann stimmt – dann darüber entscheidet sich mein "Wert" bei den Verlagen, und damit beispielsweise auch, was für Vorschüsse man mir für mein nächstes Buch anbietet.
Von daher: Unterstützt meine Verlage. Und wenn ihr .epubs lest (d.h. nicht bei Amazon kauft – für Amazonkunden ändert sich nichts), aber genau wie ich keine Lust auf hartes DRM habt, dann könnt ihr meine Romane jetzt auch "ohne" kaufen. Die Magier von Montparnasse kosten € 6,99, Das Licht hinter den Wolken € 9,99. Das sind die Bücher wert, ich find sie beide ziemlich geil.
Ich persönlich schätze die wirtschaftliche Bedeutung von Schwarzkopien deutlich geringer ein als viele andere Autoren oder Verlage das tun. Häufig wird angenommen, jede Kopie eines Werkes würde einen Verkauf weniger bedeuten, und jeder, der ein Werk kopiert, träfe in böswilliger Absicht eine kriminelle Entscheidung. Wenn ich zum Beispiel daran denke, wie viele großartige Schallplatten ich in meiner Jugend von Freunden auf Kassette aufnahm, und wie viele schreckliche Schallplatten ich versehentlich stattdessen kaufte, weiß ich, dass es so einfach nicht ist.
Werke werden verschenkt, verliehen und second hand gehandelt, manchmal gehen sie kaputt und manchmal werden sie auch weggeworfen. Andere werden einfach nur gesammelt aber nie benutzt. Und manchmal werden sie vielleicht auch geklaut. Eine gewisse "Unschärfe" bleibt immer. Der ideale, mündige Kunde, ob nun rechtschaffen gut oder rechtschaffen böse, ist in jedem Fall eine Illusion. Von daher sehe ich das eher wie Michael J. Sullivan oder Cory Doctorow: Ich freue mich über jeden Leser, dem meine Geschichten wirklich etwas bedeuten, und hoffe darauf, dass er oder sie mich in irgendeiner Form weiterempfiehlt oder unterstützt, sei es durch Buchkäufe, Bewertungen oder Mundpropaganda.
Natürlich heißt das nicht, dass mir egal ist, ob man für meine Arbeit bezahlt oder nicht. Ich glaube bloß nicht, dass ein nennenswerter Prozentsatz meiner Leser diese Abwägung wirklich in dieser Form trifft. Platt gesagt: Wer sich die Mühe macht, meine Bücher unentgeltlich zu erwerben, ist entweder schlau genug, dass er seine Gründe haben wird, oder dumm genug, dass er ohnehin wenig Spaß damit hätte. Jedem sollte klar sein, dass ich als Freiberufler darauf angewiesen bin, Geld zu verdienen. Und es geht hierbei gar nicht mal in erster Linie darum, ob ich jetzt für ein verkauftes Buch meinen Tantiemeneuro kriege oder nicht. Fast noch wichtiger ist, ob für meinen Verlag die Bilanz irgendwann stimmt – dann darüber entscheidet sich mein "Wert" bei den Verlagen, und damit beispielsweise auch, was für Vorschüsse man mir für mein nächstes Buch anbietet.
Von daher: Unterstützt meine Verlage. Und wenn ihr .epubs lest (d.h. nicht bei Amazon kauft – für Amazonkunden ändert sich nichts), aber genau wie ich keine Lust auf hartes DRM habt, dann könnt ihr meine Romane jetzt auch "ohne" kaufen. Die Magier von Montparnasse kosten € 6,99, Das Licht hinter den Wolken € 9,99. Das sind die Bücher wert, ich find sie beide ziemlich geil.
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